Zehn Thesen zur Freiheit

Wie gehe ich mit Freiheiten um?

J. G. G. (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Februar 2003)

Es gibt Menschen, denen bedeutet Freiheit wenig, anderen ist sie wichtiger als das Leben. Das Vorhandensein von Freiheit ist nicht unbestritten. Es gibt Menschen, welche die Existenz von Freiheit nicht nur bezweifeln, sondern gar verneinen. Der Autor möchte darlegen, warum es wichtig ist, über die Freiheit nachzudenken und Leitgedanken zu entwickeln, welche das Erreichen und Meistern von Freiheiten erleichtern.

Vor einigen Jahren bin ich früh morgens, als die Luft noch kühl war, mit Yoshi – einem jungen israelischen Soldaten – den steilen Weg vom Ufer des Toten Meeres hinauf auf den Masada gestiegen. Wir gingen schweigend, aus Respekt vor dem, was sich hier vor rund 2000 Jahren abgespielt hat. Israeliten sind damals unter der Führung von Eleazar ben-Ya‘ir auf dem gleichen Weg vor ihren römischen Feinden geflüchtet. Sie wurden belagert und ausgehungert. Als sie keinen Widerstand mehr leisten konnten, haben sie sich – um nicht in römische Gefangenschaft zu geraten – gegenseitig umgebracht. Die Grundmauern der Behausungen auf dem Hügel und die der römischen Lager in der Ebene sieht man noch heute. Wir spürten den Machtanspruch der einen und die Verzweiflung der anderen und fragten uns, wie wir gehandelt hätten – denn die Freiheit ist das Recht Deiner Seele zu atmen.

Erscheinungsformen, Arten, Bereiche, Formen und Qualitäten der Freiheit

Machen wir als erstes einen kleinen Rundgang durch die vielfältigen Erscheinungsformen von Freiheiten. Das Vorhandensein von Freiheit ist nicht unbestritten. Denken wir also auch daran, dass es Menschen gibt, welche die Existenz von Freiheit sehr bezweifeln oder verneinen. Ihre Sichtweise wird vor allem bestimmt durch die Regeln der Kausalität, die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, den Glauben an einen festgelegten Plan Gottes oder die Unfähigkeit der menschlichen Natur. Die Beobachtung von Regeln, Gesetzen und Unfreiheiten hat zu den Lehren der Prädestination und des Determinismus geführt. Meiner Meinung nach sind beide Theorien falsch. Paradoxerweise weil sie begrenzt sind. Die Prädestination durch ein spekulatives Gottesbild und der Determinismus durch die «naturwissenschaftliche» Denkweise. Die Auseinandersetzung mit den Beschränkungen und Hemmnissen der Freiheit ist jedoch wichtig. Wenden wir uns also den Erscheinungsformen, Arten, Bereichen, Formen und Qualitäten der verschiedenen Freiheiten zu. Wir begegnen ihnen im Universum, im globalen kulturellen und politischen Umfeld und im täglichen Leben. Wir erfahren sie in materieller, seelischer und geistiger Art. Wir ordnen sie dem Allmächtigen Baumeister aller Welten zu, finden Sie bei Menschen, Tieren, Pflanzen und würden sie – wenn unser Wahrnehmungsvermögen weiter entwickelt wäre – wahrscheinlich noch an vielen anderen Orten als «Summe potentieller Möglichkeiten» oder entsprechenden «Freiräumen» finden. Wir tragen sie in uns, in unserem Denken, Fühlen und Wollen. Wir erleben sie als Individuum, als Teil einer Gruppe oder als aussenstehender Dritter. Wir erhalten sie, erarbeiten sie, nehmen sie uns oder verlieren sie. Wir erleben sie als Reichtum oder als Bedrohung. Wir sind frei «von» oder sind frei «zu». Wir nutzen sie, teilweise, manchmal oder eben nicht. Sie kann begrenzt, umfassend, echt oder vorgeschoben sein. Und schliesslich ändert sich unser Bewusstsein der Freiheit im Verlaufe des Lebens. Diese noch immer unvollständige Aufzählung zeigt, wie vielfältig, bunt, unterschiedlich und variantenreich Begrenzungen und Freiheiten sind. Jedem begegnen sie auf ihre Weise.

Es gibt drei gute Gründe, um über Freiheit nachzudenken

Der erste ist das «Vergessen aus Gewohnheit». Kürzlich hat die Zürich-Versicherungsgesellschaft eine Umfrage zum Thema «Zufriedenheit in der Schweiz» durchführen lassen und das Ergebnis wie folgt zusammen gefasst: «Die Schweizerinnen und Schweizer sind davon überzeugt, ihr Glück in der Zweisamkeit, im Privatleben und in einem guten Einkommen zu finden – vorausgesetzt, sie sind gesund.» Das Wort «Freiheit» kommt in den Antworten nicht vor. Ich schliesse daraus, dass die schweizerische Bevölkerung sich so sehr an die Freiheit gewöhnt hat, dass wir sie nicht mehr beachten. Im Zusammenhang mit der Frage, ob die Schweiz selbständig bleiben will oder sich der Europäischen Union anschliessen soll, werden wir sehen, wie bewusst die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mit politischer Freiheit umgehen werden.

Der zweite Grund ist eine persönliche Bilanz. Was spricht dagegen, an einem Regensonntag hin zu sitzen, und sich zu überlegen, wie es mit den eigenen Freiheiten bestellt ist? Inwiefern haben sich in mir Handlungsweisen, Absichten, Vorurteile und Denkgewohnheiten angesammelt, die meine Freiheiten schleichend einschränken? Wo schränke ich unnötigerweise Freiheit anderer ein, beispielsweise in der Familie, in der Firma, in der Loge? Was kann ich tun, um meine eigenen Freiheiten und die der Gesellschaft zu verbessern?

Der dritte Gedanke ist der Freiheit als kreativer Prozess gewidmet. Ich habe den Eindruck, dass die Spezies «Mensch» im Verlauf seiner Entwicklungsgeschichte die Freiheit nach und nach entdecken, vielleicht sogar erfinden musste. Instinktives, Triebhaftes, Unbewusstes, oder aus Erfahrung Gelerntes entwickelte sich nach und nach in bewusst überlegtes, individuelles Verhalten. Ich möchte ein vergangenes und ein aktuelles Beispiel aus unserer Kultur nennen: Martin Luther musste darauf hinweisen, dass jeder einzelne Mensch ein eigenes Gewissen hat. Das war im 16. Jahrhundert offenbar nicht allgemein anerkannt, heute schon. Die Individuation im 20. Jahrhundert ist unter anderem auch eine Befreiung aus Gruppenstrukturen, wobei der Herdentrieb noch oft die Oberhand behält. In gleicher Weise, wie die Menschen sich neue Werkzeuge schaffen, neues Wissen erwerben oder neue Kunstformen erfinden, sind sie daran, neue Freiheiten zu erfinden und zu erwerben. Gemeint ist nicht das Ablegen störender Fesseln, sondern der kreative Prozess der Neues gebiert. Nicht immer ist das problemlos. Aber per Saldo ist das wünschenswert. Der Grad an Freiheit ist ein Massstab für den Grad an Kultur. Dogmafreie Menschen sind dabei in einer privilegierten Lage. Es lohnt sich also, über das Thema Freiheit nachzudenken, damit sie nicht abhanden kommt, als kreativer Prozess verstanden, und individuell, in der Loge und in der Gesellschaft gefördert wird.

Von meinem Standpunkt aus ist es schwierig zu erkennen, ob eine Entscheidung, eine Idee, ein Gedanke oder ein Wille frei entstanden ist oder nicht. Auch relative Freiheit ist eine Art Freiheit. Das Erschaffen und der Umgang mit Freiheiten ist lern- und machbar. Und das Bewusstsein von Freiheit ist individuell Daraus leite ich ab: Sollte Freiheit eine Utopie sein, so besteht doch die Idee davon und Ideen haben glücklicherweise die Tendenz sich zu verwirklichen.

Zehn Thesen Ich stelle zehn Thesen zur Diskussion, die zu mehr Freiheit beitragen sollen. Vielleicht denkt der eine oder andere, dass Thesen – also Leitsätze – sich mit Freiheit nicht vertragen. Dem würde ich zweierlei entgegen halten: Freiheit ist nicht gleich Chaos. Und eine These ist ein Leitsatz, dessen Begründung in Frage steht. Die folgenden Thesen sind der Versuch, Eigenschaften zu finden, welche den meisten Freiheiten eigen sind und Methoden wie jeder seine Freiheiten erschaffen, meistern und ausweiten kann. Beispielsweise dass man sich ihrer bewusst werden muss, dass man sie erschaffen kann und dass sie zum persönlichen Wohlbefinden oder gar zum Glück beitragen. Die Thesen sind auf die meisten Arten von Freiheit anwendbar. Sie sind jedoch vor allem für die Art von Freiheiten gedacht, die wir nicht locker meistern, sondern die eine Herausforderung an uns stellen. Für Freiheiten die grösser sind als unsere aktuelle Kompetenz. Für Freiheiten, die wir uns nicht einfach und selbstverständlich «nehmen», sondern für solche, die uns mindestens vorerst verunsichern.

1. These: Träume die Freiheit

«I have a dream!» sagte Martin Luther King, jr. Er hat seinen Traum von einer Welt frei von Rassentrennung, Hass und Gewalt im August 1963 vor dem Capitol in einer charismatischen Rede vor Tausenden von Zuhörern beschrieben und Amerika hat ihm zugehört. Vieles wurde in der Zwischenzeit verwirklicht, vieles wird es noch werden. Hände tun, was der Kopf ihnen sagt.

2. These: Mache dir ein konkretes Bild

Der Grund, warum viele Träume und Ideen nie wahr werden, hängt mit der fehlenden Konkretisierung zusammen. Das gilt übrigens nicht nur für Freiheiten. Wir kennen beispielsweise die Idee der «Vervollkommnung». Das ist ein ziemlich abstrakter Begriff. Wir haben ihn konkreter gemacht in der symbolischen Vorstellung der «Arbeit am rauhen Stein». Das führt schneller zur Umsetzung.

3. These: Überwinde die Hindernisse, welche Freiheiten einschränken oder verhindern

Es gibt leider einige Hindernisse auf dem Weg zu mehr Freiheit. Beginnen wir mit den eigenen Unzulänglichkeiten: die Macht der Gewohnheit, aber auch Eitelkeit, Neid, Habgier. Physische, geistige oder mentale Gefangenschaft, Akzeptieren von Fremdbestimmung; Mangelnde Information über Möglichkeiten und Varianten; Angepasstheit, Konformismus; Mangel an Selbstwertgefühl und Durchsetzungskraft; Angst vor Niederlagen, Angst vor Unbekanntem und vor Alleinsein; Frustration und existentielle Schuldgefühle und Liebe und Hass. Dazu gehören aber auch staatliche, wirtschaftliche, gesellschaftliche oder religiöse Normen, Regeln oder Tabus.

4. These: Erweitere die Freiheit, sonst werden andere sie einengen

Das Zeitalter der Aufklärung, also das 18. Jh. war ein Ausbruch aus dem permanenten Kriegszustand des 30-jährigen Krieges und eine Revolution gegen die absolute Monarchie auf dem Kontinent. Sie brachte – wie Kant es nannte – den «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit». Viele Menschen wurden in dem Sinne «befreit» als sie nicht mehr nur bedeutungslose Hörige oder Leibeigene – also eine Art Masse – blieben, sondern Menschen mit eigener Persönlichkeit, Vernunft und Verantwortung wurden. In einigen arabischen Ländern dagegen wird die Scharia wieder eingeführt. Islamische Fundamentalisten versuchen, ihre Sicht mit Sprengstoff durchzusetzen. Die Wirtschaftsmacht Nr 1, die USA, verstärken ihren Einfluss in der Welt aus wirtschaftlichen Gründen, sprich Oel, auf Kosten der örtlichen Gesellschaften. Weltweit sind Tausende von Beamten und Politiker daran, täglich neue Gesetze, Verbote, Regelungen und Verordnungen zu erfinden und zu erlassen. Ähnliches finden wir im Kleinen. Ehefrauen versuchen ihre Ehemänner zu erziehen und umgekehrt. Die Golfregeln sind so kompliziert, dass man nicht ohne Regelbuch auskommt. Ich kann mich an eine Diskussion in unserer Loge erinnern, in der es darum ging, welche Krawatte zu welchem Ritual passe, obwohl ich auf alten Bildern oder Stichen von Ritualen sehe, dass jeder Bruder individuell gekleidet ist. Ich will damit sagen, dass die Freiheit ständig in Bewegung ist, weil ständig irgend jemand daran herum fuhrwerkt. Weil die Freiheit also ein «variables Gebilde ist», sollte jeder, der daran interessiert ist, ein wachsames Auge darauf haben und aktiv an der Verteidigung und dem Ausbau des Erreichten mitarbeiten. In der Schweiz haben wir eine Form des friedlichen Zusammenlebens von Menschen verschiedener Herkunft, verschiedener Sprache, verschiedenen Glaubens und verschiedener Kulturen erlangt, erkämpft, erarbeitet und eingeübt. Wir haben beispielsweise gelernt, Minderheiten nicht zu bekämpfen, sondern zu beschützen. Schweizerinnen und Schweizer haben direkten Einfluss auf den Gang der Dinge. Die Schweiz ist eines der freisten Länder der Welt. Achten wir darauf, dass diese Qualität nicht abhanden kommt.

5. These: Überwinde Angst und Einsamkeit

Jeder Pilot wird bestätigen, dass der erste Alleinflug ein besonderes Erlebnis ist. Wie die meisten kann auch ich mich noch genau daran erinnern, obwohl inzwischen schon 35 Jahre vergangen sind. Du sitzt also allein im Flugzeug, der Himmel steht dir offen. Da ist kein Fluglehrer mehr der hilft. Was immer du tust, du trägst die Konsequenzen. Das ist einesteils eine tolle Sache aber andernteils lauert da nicht ein wenig Angst im Nacken? Werde ich einen sauberen Start hinkriegen? Werde ich das Flugzeug beherrschen, das Wetter richtig beurteilen, richtig navigieren? Wird die Landung gelingen? Der Schritt in eine neue Dimension kann durchaus mit Angst verbunden sein. Eine neue Freiheit kann auch bedeuten, aus Normen heraus zu treten, Tabus zu brechen. Avangardistische Maler, moderne Theaterregisseure, Wissenschaftler, Soziologen tun es. Jede neue Generation tut es. Dieses Ausscheren hat aber auch mit einer Art Alleingang zu tun. Erich Fromm nennt es «Einsamkeit». Das wollen nicht alle Menschen ertragen. Die Überwindung der Angst und das Ertragen von Ausgrenzung sind der Preis für die Vorteile neuer Freiheiten. Sie zu ertragen lohnt sich jedoch.

6. These: Sei ein verantwortungsbewusster Egoist

Einem Baby wird sofort nach der Geburt beigebracht, dass es zu bestimmten Zeiten essen muss und dass man nachts zu schlafen hat. Das ist möglicherweise sinnvoll, aber liegt vor allem im Interesse der Mutter und der Krankenschwestern, und nicht des Babys. Im Kindergarten lernt man still zu sitzen, denn das Unterrichten ist bequemer, wenn Ruhe herrscht. Vor allem für den Lehrkörper natürlich. In der Familie und der Schule folgen viele weitere Disziplinierungsversuche die oft im Militär ihren Höhepunkt erreichen. Wenn die englische Königin ihren Geburtstag feiert, marschieren Hunderte von altertümlich gekleideten Soldaten in völlig unnatürlichem Schritt wortlos an ihr vorbei. Der Stolz der Offiziere scheint um so grösser zu sein, je besser es gelingt, aus Männern aller Art hölzerne Marionetten zu machen. Selbstverständlich wird auch unter Ehepaaren, in Firmen, Organisationen, politischen Parteien und Sportvereinen sowie beispielsweise im Strassenverkehr unentwegt, häufig und gerne diszipliniert. Tausende von Beamten sehen ihren Ehrgeiz darin, neue Vorschriften, Verordnungen und Gesetze zu gebären und umzusetzen. Der Mensch wird frei geboren, und dann eingeschult!

Alles regeln zu wollen hat positive und negative Aspekte, wie zum Beispiel: Es ermöglicht das friedliche Zusammenleben von Menschen und vereinfacht Kommunikations-, Arbeitsund andere Prozesse. Es wird geboren aus der Angst, die Kontrolle zu verlieren. Es erhält die Macht und es erschwert dem Kleineren, gegen den Grösseren zu gewinnen. Die einschränkende Energie benötigt eine ausdehnende Energie. Der Schriftsteller Salman Rushdie hat es in einem Interwiew mit der Basler Zeitung wie folgt formuliert: «Wir arbeiten nicht in der Mitte, sondern am Rand. Wir müssen ihn durchbrechen oder wenigstens ausbeulen!» Dort wo Disziplinierung unsinnig wird, die Freiheit des Einzelnen ohne Not einschränkt, ihn entmündigt oder entwürdigt oder dazu dient, dass einige wenige viele andere ausbeuten, muss man dagegen angehen. Konkret und sofort. Tell hat den Hut auch nicht gegrüsst.

7. These: Informiere Dich

Was wir nicht wissen, fühlen, sehen oder glauben kurz – was uns nicht bewusst ist – steht uns als potentielle Chance nicht zur Verfügung. Also können wir sie auch nicht nutzen. Ausgenommen davon sind vielleicht Möglichkeiten, die wir unbewusst oder intuitiv wahrnehmen.

Die Grenzen unseres Wissens und unserer Vorstellungskraft sind auch Grenzen unserer Freiheit

8. These: Fördere die Freiheit bei anderen

Denn sie fällt auf Dich zurück

9. These: Memento mori

Denke daran, dass Du sterben musst. Der Bogen von Freiheit zum Tod scheint weit hergeholt zu sein, ist es aber nicht. Manche Menschen befassen sich intensiv mit dem Tod, andere werden dazu gezwungen. Solche, welche eine normalerweise tödlich verlaufende Krankheit oder einen schweren Unfall überlebt haben, berichten, dass ihr Leben nun viel gelassener und freier geworden sei.

10. These: Geniesse die Freiheit

Wenn Du etwas für die Freiheit getan hast, geniesse sie, denn sie ist das Recht Deiner Seele zu atmen.

Zum Studienthema Freiheit

Wir können nur etwas bewirken, indem wir unsere Freiheit eingrenzen

Die Loge Bauplan in St. Gallen hat sich mit dem Studienthema «Freiheit» auseinander gesetzt. Ein Bruder meinte in seinem Votum, dass es sich mit dem Begriff Freiheit ähnlich verhalte wie mit dem Begriff Zeit, von dem der Kirchenvater Augustinus sagte «Was ist Zeit? Fragt man mich nicht darnach, weiss ich es. Fragt man mich aber darnach, weiss ich es nicht».

Es ist naheliegend, dass man Freiheit mit Unabhängigkeit gleichsetzt. Dabei denkt man an Unabhängigkeit von äusserem und von innerem Zwang und vom Zwang, der durch den Menschen und seine Institutionen hervorgerufen wird. Je mehr diese Unabhängigkeit hinterfragt wird, desto mehr erkennen wir, dass es sie in reiner Form gar nicht gibt, gar nicht geben darf. Jeder Mensch ist geprägt vom Kulturkreis, in den er hineingeboren wurde, aber auch von den Menschen, die ihn umgeben, oder vom Rechtssystem, das ihn einengt. Er kann sich über seine Freiheit seine Gedanken machen und ein Bild seiner Vorstellung der Freiheit entwerfen. Er kann aber seine vorgestellte und gewünschte Freiheit indessen gar nicht ausleben, denn er bewegt sich in einer Gesellschaft von Menschen, auf die er Rücksicht nehmen muss. Wenn alle Menschen auf dieselben Freiheiten pochen und für sich in Anspruch nehmen würden, müsste jeder in trostloser Einsamkeit leben.

Die von Denkern aller Art – seien es Philosophen, Psychologen, Theologen oder Staatsmänner – geführten Diskussionen überdie Freiheit und über die verschiedenen Arten von Freiheiten, sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Für eine vertiefte, grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Freiheit ist denn auch ein breites Wissen bei allen Teilnehmern an der Diskussion erforderlich, wie wir es bei den einzelnen Brüdern einer Loge nicht finden. Sich über die Freiheit Gedanken machen, darüber reden und diskutieren, muss deshalb dazu führen, dass jeder das, was er selbst als seine Freiheit sieht, zum Zusammenleben in der Gesellschaft einsetzt.

Orientieren wir uns an unserem Symbol des rauhen Steins. Wir behauen ihn – jeder auf seine Weise – nicht damit er schliesslich isoliert in Schönheit dasteht, sondern damit er ins Mauerwerk eingefügt werden kann. Das heisst, nicht damit der Einzelne seine Freiheit zum Mass aller Dinge macht, sondern damit er sich der Gemeinschaft unterordnet.

Wir können nur etwas bewirken, wenn wir unsere Freiheit eingrenzen. Wer die Eingrenzung nicht spürt, erkennt umgekehrt die Freiheit nicht, die Loslassen bedeutet; Loslassen in Gedanken, die niemandem wehtun. Der Mensch hat so die Freiheit, sich selbst zu verändern.

Eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens kann sein, dass wir die Menschen um uns herum glücklich machen sollen. Setzen wir die uns zur Verfügung stehende Freiheit ein, dieser Zielsetzung nach zu leben, auch für uns selbst!