Yi Jing – Wohin fliesst der Strom des Lebens?

Die chinesische Gedankenwelt unterscheidet sich stark von unserer westlichen. Ein Hauptunterschied besteht darin, dass sie – im Gegensatz zu unseren Vorstellungen von «Wahrheit», «Sein» und «Ewigkeit» – nur den Wandel als Weltprinzip kennt. Welche Konsequenzen das für das geistig-spirituelle, aber auch das alltägliche Leben hat, wird im Folgenden aufgezeigt.

Von Br∴ S. A.-W., L∴ Liberté i∴ O∴ Lausanne

Das Yi Jing sollte eigentlich das Weisheitsbuch sein, das uns Freimaurern am nächsten steht. Am Anfang war nicht das Wort, sondern das Symbol bzw. die Hexagramme. Erst aus den Beobachtungen der Wandlungen der sechs Striche der 64 Hexagramme ergaben sich die Kommentare. Symbol und Wort bilden nun den Inhalt dieses Buches, das eine der wichtigsten Grundlagen der chinesischen Gedankenwelt darstellt.

Der «kreative Elan»

Am Anfang war nicht das Wort und am Anfang war auch kein Schöpfer. Richard Wilhelm – und später auch René van Osten – haben das erste Hexagramm mit «das Schöpferische » übersetzt. Das ist grammatikalisch und sinngemäss ein Neutrum und insofern akzeptabel. Besser ist die Übersetzung von Cyrille J.-D. Javary: «l’élan créatif», was man so ungefähr mit «kreativem Elan» wiedergeben kann. Sie entspricht der Dynamik, welche die chinesische Sprache und Gedankenwelt charakterisiert. Das bekannte Dao, das wir im Wort Taoismus finden, schreibt sich 道, wobei 辶 «gehen» bedeutet. Das ganze Zeichen wird mit «Weg, Pfad» übersetzt. Auch das chinesische Wort «wissen» wird mit diesem Zeichen geschrieben: 知道 (zhidào).

Weisheit ist also der dynamische Prozess, in dem der Mensch sich bemüht, sich mit der Natur in Einklang zu bringen. Das Befragen des Yi Jing hat genau das zum Ziel. Es soll uns helfen, den Moment und die sich anzeigenden Wandlungen zu verstehen, damit wir uns dem Lauf der Dinge anpassen können. Das ist unsere Freiheit: sich mit dem Wandel der Welt in Einklang zu bringen.

Überwindung des logischen Denkens

Wie François Jullien es in seinem wertvollen Buch «Figures de l’immanence» erklärt, ist der Wandel die einzige Realität. In diesem Sinne stellt es den westlichen Anspruch an «Wahrheit», «Sein» und «Ewigkeit» in Frage. Gerade weil die chinesische Gedankenwelt anders aufgebaut ist, bildet sie für uns eine Spiegelfunktion, die uns dazu zwingt, unsere Ansichten kritisch zu durchleuchten.

Dies beginnt schon mit der chinesischen Schrift, wie wir es mit dem Wort dào gesehen haben. Es gibt keine Buchstaben in der chinesischen Schrift. Jedes Zeichen hat eine Bedeutung. Das gilt auch für Yi Jing 易经 Jïng 经 经 (traditionelle Schrift: 經) steht für einen klassischen Text; yì 易 steht für Wandel, Änderung. Im oberen Feld haben wir die Sonne: 日; im unteren den Regen: 勿1.

Der Wandel ist keine abstrakte Idee, sondern drückt ganz konkret das aus, was jeder von uns in der Natur beobachten kann: Auf den Regen folgt die Sonne!

Das Hexagramm ist aber noch einfacher.2 Es enthält nur volle und unterbrochene Striche. François Jullien nennt es eine Protosprache oder auch einen Archetext.3 Die 64 Hexagramme enthalten potentiell alle möglichen Texte, alle Möglichkeiten der Wandlungen.

Das Vorgehen

Das Hexagramm hat die gleiche Funktion wie das maurerische Symbol oder auch das Koan im Zen- Buddhismus: Die Sprache oder das logische Denken soll überwunden werden. Die Sprache kommt dann später in den Kommentaren wieder zu ihrem Recht, sie ist aber dem Hexagramm immer untergeordnet.

Hexagramm und Text sind Entscheidungshilfen. Das Yi Jing schärft auch unseren Verstand, indem es uns Zusammenhänge in der Welt aufzeigt, deren wir uns nicht bewusst waren. Wie aber sollen wir die Hexagramme und die Texte lesen und über sie meditieren? So, wie es traditionell seit Jahrtausenden gemacht wird: Man bereitet sich innerlich und äusserlich auf die Befragung vor. Unsere erste Aufgabe wird es sein, die Frage genau zu formulieren. Was genau wollen wir wissen und warum? Um auch hier Missverständnisse zu vermeiden: Das Yi Jing ist kein Wahrsagebuch. Es wird unseren Blick auf die momentane Situation, die Zusammenhänge, die Hintergründe schärfen.

Als zweites nehmen wir fünfzig Schafgarbenstäbchen.4 An einem ruhigen Ort zählen wir sorgfältig die Stäbchen. Eins legen wir vor uns hin. Es kann die Einheit symbolisieren, die nicht von dieser Welt ist. In der chinesischen Gedankenwelt ist die Einheit immer aus zwei Teilen zusammengesetzt. Die beste Darstellung dieser aus zwei komplementären Elementen bestehenden Einheit ist das Symbol Tàijí 太极. Folgerichtig erhält der unterbrochene Strich Yin die Zahl zwei und dem vollen Strich Yang wird die Zahl drei zugeordnet. Das isolierte Stäbchen wird während des ganzen Rituals nicht mehr berührt.

Alles ist dynamisch

Die genaue Abfolge des Rituals soll hier nicht aufgezeigt werden. Wichtig ist, dass auf diese Weise das Hexagramm bestimmt wird. Die Linien sind aber nicht nur Yin oder Yang; sie können auch mutierend sein. Wie wir es mit der chinesischen Sprache gesehen haben, ist alles immer dynamisch. Das erhaltene Hexagramm ist bereits daran, sich zu ändern. Es zeigt also nicht nur die jetzige Situation, sondern auch die Perspektive: Wohin fliesst der Strom des Lebens?

Genau wie in der chinesischen Malerei die leeren Flächen wichtig sind, ist auch hier das gegenteilige Hexagramm von Bedeutung, denn es zeigt uns, was die Situation nicht ist. Aber nicht nur das Hexagramm, sondern auch das Trigramm und jede einzelne Linie hat eine Signifikanz. Das Sich-Versenken in diese Beziehungen und Zusammenhänge, dann auch in die Kommentare bilden die Auseinandersetzung mit diesem grundlegenden Buch. Wer nur die Texte liest, bleibt auf einer literarischen oder philologischen Ebene, und das ist nicht der Zweck des Yi Jings.

Anmerkungen
1 Es gibt andere Interpretationen von 勿 und 易. Wir akzeptieren hier die Interpretation von Cyrille J.-D. Javary und können auch auf die Internetseite http://hanziyuan.net/ hinweisen, wo diese Interpretation untermauert wird.
2 Wir finden übrigens 易 im heutigen Wort: róngyì 容易 (einfach)
3 Jullien François, Figures de l’immanence, Grasset, 1993, p. 19
4 Es gibt schnellere Methoden, aber was soll in diesem Kontext die Geschwindigkeit?