Zwischen Euphorie und Verteufelung

Am Thema Social Media scheiden sich die Geister. Ungeahnten Möglichkeiten stehen Gefahren gegenüber, deren sich viele Leute nicht bewusst sind. Da ist die weitgehende Unabhängigkeit von Zeit und Raum. Da sind aber auch Infantilisierung und Narzissmus. Und dazwischen steht der User.

Man stelle sich vor: In einem Science-fiction- Film der 1970er Jahre besitzt jeder Mensch ein kleines Gerät, das er stets mit sich führt. Er telefoniert, hört Musik, schaut sich Filme an, fotografiert. Und vor allen Dingen: Er bedient mit grossem Geschick die Tastatur, über die er sich mit anderen Leuten unterhält. Wir hätten diese Zukunftsmusik wohl kaum ernstgenommen, den Kopf geschüttelt und gelacht. Heute ist das Ganze Realität geworden. Facebook, Twitter und andere Social Media erfreuen sich grösster Beliebtheit. Wie ist das zu beurteilen?

Schwarzweiss-Malerei fehl am Platz

Eines steht fest: Wir kommen um die Social Media nicht herum. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Allerdings kann man das Phänomen nicht so leicht einordnen. Handelt es sich um einen Entwicklungsschub wie viele andere, eine Modernisierung, eher eine Evolution? Oder haben wir es mit einem Quantensprung, dem Beginn einer radikal neuen Ära, einer Revolution zu tun? Die Ansichten gehen auseinander.

Das Zeitalter der Social Media wird des Öfteren mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts verglichen. Hier wie dort gibt es Gewinner und Verlierer. Man entwickelt einerseits Geschäftsmodelle und nutzt die neuen Möglichkeiten. Andererseits kommen Ängste auf. Die Neuerungen werden mitunter verteufelt. Nostalgie kann zur Grundbefindlichkeit werden. Es werden auch Stimmen laut, die eine Bewusstseinsveränderung beklagen. Andrew Keen (*1960), ein britisch-amerikanischer Unternehmer und Internet-Kritiker, schreibt: «Facebook macht uns hohl und narzisstisch.» Die Infantilisierung über Symbol-Apps wie Emoticons und die Fixierung auf Selfies legen dieses Urteil nahe. Ja, es ist bisweilen von einer «digitalen Droge» die Rede.

Auch politisch ermöglichen Social Media Dinge, die zuvor undenkbar gewesen sind.

Eine Schwarzweiss-Malerei ist fehl am Platz. Kritikern der Social Media muss entgegengehalten werden, dass die Mikrokommunikation Beziehungen aufrechterhält. Der deutsche Psychologe Friedemann Schulz von Thun hat aufgezeigt, dass in unserer Kommunikation neben dem reinen Sachaspekt stets auch jener des Appells, der Beziehung und der Selbstoffenbarung mitschwingt. Wer also den geringen Informationsgehalt von Twitter-, Facebook-, Whatsapp-Texten beklagt, übersieht die anderen Gesichtspunkte.

Auch politisch ermöglichen Social Media Dinge, die zuvor undenkbar gewesen sind. So spielten sie im arabischen Frühling eine grosse Rolle. Die Aufständischen richteten als eine der ersten Operationen eine «App» ein. Kein Wunder, fallen elektronische Medien in China, Russland und der Türkei stattlicher Zensur zum Opfer. Nicht zuletzt erleichtern uns die Digitalisierung im Allgemeinen und die Welt der Social Media im Besonderen die Organisation alltäglicher Dinge enorm. Räumliche und zeitliche Schranken fallen weitgehend. Aber eben …

«Ich werde aufgefressen»

Einer der prominentesten Kritiker der Social Media war Frank Schirrmacher (1959–2014). Der Journalist, Essayist, Buchautor und Mitherausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» formulierte pointiert Widerstand gegen die neuen Medien: «Mein Kopf kommt nicht mehr mit.» Die unablässige Datenflut stufe sein Gehirn zu einer reinen Fortsetzung der Kommunikationsmaschinerie herab. Er sei oft unkonzentriert, vergesslich und überfordert. Zudem wisse er nicht mehr, welche Informationen relevant seien und welche nicht. Unser Denken werde auf die Logik der Rechner reduziert. Hinzu komme die ständige Angst, etwas zu verpassen. Sein Fazit: «Ich werde aufgefressen.»

Schirrmachers Aussagen dürfen indes nicht zur Folgerung verleiten, er wolle sich aus der digitalen Welt verabschieden. Vielmehr ist er durchaus Technik-affin.

Verlieren wir die Kontrolle?

Ein Hauptargument gegen die Social Media ist der Verlust jeglicher Kontrolle. Der österreichische Schriftsteller und Philosoph Günther Anders (1902–1992) formulierte in einem seiner Hauptwerke, «Die Antiquiertheit des Menschen » von 1956, die These des «promethischen Gefälles». Es ging ihm um die Diskrepanz zwischen der Leistungsfähigkeit des Menschen und jener seiner Geräte. Das Werkzeug als Verlängerung und Verbesserung menschlicher Organe sei durch die Maschine ersetzt worden, und diese entwickle eine fatale Eigendynamik. Der programmatische Untertitel von Schirrmachers 2009 veröffentlichtem Buch «Payback» lautet: «Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen.»

Der drohende Kontrollverlust ist allerdings gut kaschiert. Man freut sich, Plattformen wie Facebook oder Twitter unentgeltlich benutzen zu können. Dass wir aber mit unseren Daten eine Geldquelle sind, ist den wenigsten bewusst. Im Zeitalter der personalisierten Werbung sind die Profile der User entscheidend, und diese sind aus deren digitaler Kommunikation ableitbar. Andrew Keen sähe es gern, wenn die digitalen Medien etwas kosten würden: «Ich möchte, dass die Menschen für Facebook bezahlen und im Gegenzug genau wissen, was sie erhalten.» Er «mag die Idee nicht, aus Daten Kapital zu schlagen.»

Widersprüche

Mit den Social Media vermag man gleichzeitig anonym und intim zu kommunizieren. Man kann Persönlichstes in Wort und Bild wiedergeben, muss aber niemandem in die Augen schauen. Es ist schon von einem «Maskenball» gesprochen worden. Social Media erwecken aufgrund ihrer Spontaneität einen authentischen Eindruck, können sich aber reiner Phantasie und Profilierungssucht verdanken. Des Weiteren kann man sich nahezu unabhängig von Zeit und Raum im digitalen All bewegen, kann mit wenig Aufwand mit zig Menschen in Verbindung treten. Zugleich aber droht man dabei zu vereinsamen. Social Media eignen sich gewiss für die Mikrokommunikation. Doch eine Beziehung beenden sollte man wohl besser von Angesicht zu Angesicht. Was man locker in den Äther schickt, kann Jahre später unangenehme Folgen haben. Der nahezu grenzenlosen Freiheit steht der mehr oder minder selbstauferlegte Zwang gegenüber, 365 x 24 Stunden auf Empfang zu sein.

Man könnte ja etwas verpassen. T. M.