Die Praxis der Alchemie oder die Suche nach der absoluten Perfektion

Schon vor seiner Einführung in den Tempel wird der Kandidat, vielleicht oh-ne dass er es merkt, mit den Grundprinzipien der traditionellen Alchemie konfrontiert. Eingeschlossen in der Kammer des stillen Nachdenkens, zeigen sich ihm die Inschrift VITRIOL: “Visita Interiora Terrae Rectificando Invenies Occultum Lapidem” (Betrachte, was im Inneren der Erde liegt; indem du es läuterst, wirst du einen zuvor verborgenen Stein erhalten), der Schwefel, das Salz und das Quecksilber. So ist es jedenfalls in mehreren maurerischen Systemen.

Das letzte der drei aufgeführten Elemente, das Quecksilber (mercure), steht für den römischen Gott Merkur. Mit ihm wird die mythische Gestalt des Hermes Trismegistos verknüpft, deren Ursprung weit ins ägyptische Altertum zurückreicht und die man in unterschiedlicher Form in der griechischen, minoischen, phönizischen oder sogar der persischen Kultur antrifft. Als Meister der Künste und Wissenschaften hoch geachtet, wird er der “Dreimalgrosse” genannt, weil er auf der Erde, im Himmel und in der Unterwelt wirkt. Von seinem Namen stammt der Ausdruck “Hermetik”. Aus seinem Denken stammt die bekannte Tabula Smaragdina (smaragdene Tafel“), seit den ältesten Zeiten ein wahres alchemistisches Vademecum. Es handelt sich um ein sehr knapp gefasstes Lehrwerk und beschränkt sich auf fünfundzwanzig Verse von geheimnisvollem und sybillinischem Sinn, ähnlich einem Orakel. “Nimm hinweg die Erde von dem Feuer, das Feine von dem Groben, mit Vorsicht und Kunst.” Hier haben wir schon eine Formel, die für die Praktiker des Athanor oder “Philosophischen Ofens” wichtig ist.

Die Lehren der Tafel hatten wohl für die Alten andere Bedeutungen als wir heute darin erkennen. Sie zeugen von einem breiten Wissen, das sich im Lauf der Jahrhunderte verändert hat. Die Überlieferungen wurden verfälscht, aber die Alchemisten aller Zeiten bemühten sich, sie in ihren Arbeitsverfahren beizubehalten. In seinem Buch “Le phénomène maçonnique décortiqué” (www.avv13publishing.ro) schreibt der Waadtländer Autor Jacques Herman: “Die Kunst der Alchemie ist letztendlich der Weg des Menschen zum Licht, zu diesem Absoluten, von dem er herkommt und zu dem er zurückkehren wird.”

Geheimnisumwitterte Personen

Nicht alle alchemistischen Unternehmungen hatten derart edle Ziele. Es gab und gibt immer noch Betrüger. Diese “Bläser” (souffleurs), wie man sie nennt, verfolgen mehr profane Zwecke, als dass sie den Stein der Weisen suchen. Diese Suche aber läuft darauf hinaus, schliesslich den Menschen von Grund auf zu erneuern, so wie die Arbeit am rohen Stein den Lehrling auf den Weg der Vervollkommnung weist. Die Arbeitsweisen der Alchemie sind mindestens viertausend Jahre alt. Sie erstrecken sich über alle Weltregionen und sind unter anderen den Chinesen, den Hebräern und den Arabern bekannt. Deren Forschungen kennen wir nicht, trotz den Schriften, die sie uns hinterlassen haben. Unsere Vorstellung verbindet deshalb diese Art esoterischer Unternehmungen vornehmlich mit dem Mittelalter und der Renaissance. Unter den hervorragendsten Namen finden sich Jakob Böhme, Roger Bacon, Arnaud de Villeneuve, Denis Zacharie, Nicolas Flamel, Robert Fludd … Einzelne gehörten der Bruderschaft der Rosenkreuzer an. Alle sind sie geheimnisumwitterte und legendenumwobene Persönlichkeiten. Jeder von ihnen hat seine Bemühungen auf das Grosse Werk gerichtet, das in drei aufeinanderfolgenden Schritten, entsprechend den Farben Schwarz, Weiss und Rot, verwirklicht wird. Das war das letzte Ziel ihres Ideals, der Höhepunkt der Läuterung, über dem es nichts mehr anzustreben gibt. Alles in allem: Ein neues Eden.

Eine Einführung in die Alchemie und eine Kurzfassung ihrer Geschichte

Man betrachtet die Alchemisten oft als Goldmacher. Dass das wertvolle gelbe Metall hergestellt werden kann, ist eine Tatsache. Wir haben es vor Jahren am Wohnort von Michel Cugnet, Alt-Grossredner der SGLA, mit eigenen Augen gesehen. Er zeigte uns feine Plättchen, die er am Ende eines alchemistischen Prozesses gewonnen hatte, der viel Arbeit, vor allem aber viel Geduld erforderte. Die Menge war von geringem Geldwert, das Ergebnis ist aber trotzdem echt. Michel Cugnet erklärt in einem kleinen Werk mit dem Titel: Alchimie – de l’or “fait maison”, est-ce possible? (www.lhebe.ch), wie man zu diesem Ergebnis kommt. Er weist darauf hin, dass es wichtig ist, “seine Seele zu reinigen, bevor man sich an den Ofen setzt”, wenn man mit der Methode Erfolg haben will. Sein Büchlein ist eine gute Einführung in die Alchemie, eine Zusammenfassung ihrer Geschichte, ihrer Ziele und ihrer Besonderheiten in den verschiedenen Epochen. Er hat es mit bibliographischen Angaben versehen, weil zu diesem Thema eine Flut von Literatur besteht, die nicht immer die Lektüre lohnt. Das ändert nichts daran, dass die traditionelle Alchemie Mystik, Philosophie und das Studium der Natur eng miteinander verbindet.

Der Fall Paracelsus

Offensichtlich war der Alchemist immer Gegenstand von Verdächtigungen, sogar wenn er seine Fähigkeiten in den Dienst der lokalen Machthaber stellte. Um seine Person rankten sich Vorstellungen, die ihn in die Nähe eines Magiers rückten, eines Hexers oder Wundertäters, der bewirken kann, was er will. Einige sollen sich sogar an Versuche mit Geisterbeschwörungen gewagt haben. Der typische Alchemist liebte die Stille und die Einsamkeit, die Verborgenheit seines finsteren Laboratoriums mit seinen Zauberbüchern, Retorten, Destillierapparaten und seltsamen Stoffen. Mancher Künstler hat ihn in einem solchen Umfeld dargestellt; so gibt es einige Zeichnungen von Pierre Brueghel. Hatten sich die Alchemisten der Transformation der Materie verschrieben, überschritten sie oftmals auch die sozialen Normen. Viele unter ihnen nahmen ein schlimmes Ende.

Wegbereiter, hervorragender Geist seiner Zeit

Der Fall unseres Landsmannes Theophrastus Paracelsus (1493-1541), gebürtiger Einsiedler, ist beispielhaft für eine Kategorie von Alchemisten, die nicht nur Elemente umwandelten, sondern auch hervorragende Ärzte waren. Paracelsus war ein Freund von Erasmus und wurde von Giordano Bruno und Ambroise Paré bewundert. Er beabsichtigte, “zuverlässige Heilmittel herzustellen, um damit die Krankheiten zu heilen.” Er entwickelte eine komplexe Lehre, die auf der Entsprechung von zwei oder mehr Komponenten beruhte, hatte als echter humanistischer Gelehrter seine Blütezeit, pflegte Kontakte mit den Grossen der Welt und vermengte eine wissenschaftliche Arbeitsweise mit irrationalen Wissensgebieten wie z.B. die Astrologie. Man hat ihm nachgesagt, er sei in eine geheime Gesellschaft eingeweiht gewesen, die ihm Reisen und Zusammenkünfte in ganz Europa erleichtert habe. 1522 heilte er in Venedig achtzehn Prinzen, die durch ihre Ärzte aufgegeben worden waren.

Paracelsus ist überzeugt, “dass man den Menschen ins Universum einbinden muss, weil alles, was existiert, lebt und eine Seele hat”, – heute eine Binsenweisheit, früher aber eine gefährliche Irrlehre. Seine Schüler waren zahlreich. Er gilt als Pionier, auch was die Behandlung von psychischen Störungen betrifft. Sogar Sigmund Freud soll durch seine Theorie über die Träume inspiriert worden sein. War also Paracelsus Okkultist, Prophet, Wunderdoktor, Visionär? Zweifellos ein wenig von alldem, aber ganz gewiss ein hervorragender Geist seiner Zeit.

Ein heilsamer Ehrgeiz

“Die Alchemie als solche hatte immer einen sehr starken Einfluss auf die Literatur und die bildenden Künste, und diesen hat sie auch heute noch” betont Jacques Herman. Das lässt sich mit typischen Beispielen belegen. Die offensichtlichste Erscheinung im zwanzigsten Jahrhundert ist zweifellos der Surrealismus mit André Breton als führendem Kopf und Vordenker. Diese Bewegung der Avantgarde war die innovativste von allen und mit ihrem Programm des umfassenden Bewusstseins besonders ambitioniert. Die Surrealisten, die einen Bewusstseinswandel anstreben, schöpften nicht wenig aus den uralten Quellen der Alchemie. Die Geheimnisse der Hermetik waren den meisten Surrealisten vertraut.

Durch ihren Erneuerungswillen wird die alchemistische – oder königliche – Kunst in ihrem Wesen subversiv bleiben. J.T.

(Übersetzung: R.K.)