Die Psychologie des Rituals

Wir Freimaurer sprechen gern vom Geheimnis, das sich in den Tempelarbeiten einstellt. In ihm zeigt sich exemplarisch, dass die Königliche Kunst weniger auf Wissen beruht als auf der esoterischen Dimension, auf dem nicht reproduzierbaren innersten Erleben. Doch auf welche Weise sind unsere Symbole und Rituale für diese Vorgänge massgeblich?

Was macht unser Geheimnis geheim? Bestimmt spielt der taktische Gesichtspunkt der Sicherheit eine Rolle, früher vielleicht mehr als heute. Hinzu kommt die über das rein Taktische hinausgehende Arkandisziplin. Zu dieser gehört ein weniger oft angeführter Aspekt: Über etwas zu schweigen, und wenn möglich im Kollektiv, erhöht das Gewicht und den Wert dessen, worüber man schweigt. Ein dritter Grund besteht darin, dass sich dieses Geheimnis der sprachlichen oder sonstigen Vermittlung entzieht. In eine einfache Formel gebracht: Man sollte klugerweise nichts sagen. Man darf nichts sagen. Man kann nichts sagen.

Was ist ein Ritual?

Wir pflegen Rituale und Symbole in einem Atemzug zu nennen. Der deutschamerikanische Soziologe Thomas Luckmann (1927–2016) brachte ihren Zusammenhang auf eine einfache Formel: Rituale seien der «Handlungsmodus von Symbolen». Sie verknüpfen einzelne Symbole zu einer sinnstiftenden, übergeordneten Dynamik.

In den Worten des thailändischen Sozialanthropologen Stanley Jeyaraja Tambiah (1929–2014) ist ein Ritual

  • ein kulturell konstruiertes System symbolischer Kommunikation.
  • Es besteht aus strukturierten und geordneten Sequenzen von Worten und Handlungen,
  • die oft multi-medial ausgedrückt werden
  • und deren Inhalt und Zusammenstellung mehr oder weniger charakterisiert sind durch Formalität (Charakter einer Konvention), Stereotypie (rigides Festhalten an einer Form), Verdichtung (Verschmelzung unterschiedlicher Elemente) und Redundanz (Wiederholung).

Indem wir sprechen, handeln wir. Das zeigt sich etwa im Gelöbnis oder bei der Aufnahme

In den 1970er und 1980er Jahren vollzog sich in der Ritualforschung der sogenannte «performative turn», also eine «handlungsbezogene Wende». Tambiah war einer ihrer Verfechter. Es seien weniger die Texte und Symbole, die den Wert und die Wirkung von Ritualen ausmachen, als die entsprechenden Handlungen. Performativ seien Rituale insofern, als sie eine Inszenierung bilden und mit dieser neue Wirklichkeiten schaffen. Hinzu kommt, dass die Sprache ebenfalls performativen Charakter annehmen kann: Indem wir sprechen, handeln wir. Das zeigt sich etwa im Gelöbnis oder bei der Aufnahme.

Wie wirkt ein Ritual?

Rituale sind, folgt man dem Freimaurereiforscher Hans- Hermann Höhmann, ein «spiritueller Übungs- und Erfahrungsraum ». Der Bruder kann im Lauf der Tempelarbeit in den Zustand eines Flow, also der Vertiefung und Absorption, geraten. Er kann sich und seine Mitbrüder auf eine neue oder immerhin aussergewöhnliche Weise erleben. Ruhe und Reflexion können sich einstellen. Man hat Grenzerfahrungen. Auch können aus dem Erlebten ethische Konsequenzen abgeleitet werden.

Das masonische Ritual ist hochkomplex und, wie es Tambiah formuliert hat, multi-medial. Die Wirkung entsteht denn auch aus einer Vielzahl von Faktoren. Die Sinne werden sensibilisiert. Ratio, Gefühle und Spiritualität werden gleichermassen angesprochen. Auf subliminalem Weg, also noch vor der Schwelle zum Bewusstsein, können Inhalte ins Unterbewusstsein gelangen.

Da ist der in sich geschlossene Tempel mit seinem Reichtum an Entsprechungen und Verweisen. Da ist die bewusste Distanz zum Alltag, wenn der Stuhlmeister davon spricht, dass der Lärm des Tages noch in den Brüdern nachhalle und es darum gehe, «uns innerlich auf die bevorstehende Arbeit einzustimmen». Da sind das Licht, die Musik, all die sprachlichen Elemente, die sich Jahrhunderten der Einübung verdanken. Da sind Handlungen wie das Ins-Zeichen-Treten, die Batterie oder die Bruderkette. Mit diesen ist eine besondere Gruppendynamik verbunden, die eine Abgrenzung nach aussen und eine Kohäsion nach innen zur Folge hat. In manchen Logen führen alle Brüder in den Tempelarbeiten im ersten Grad konkret den Lehrlingsschlag aus.

Des Weiteren begegnet eine ausgesuchte Ästhetik – in der Anlage des Tempels, in den maurerischen Werkzeugen, im Blumenschmuck, in der Uniformität der feierlichen Kleidung. Durch die Stereotypie des Rituals stellt sich eine gewisse Konditionierung ein, z. B.: «Wenn ich im Tempel bin, kann ich abschalten» (vgl. den Text von Br∴ Thomas Braun). Da die masonische Symbolik nie zu Ende deutund erlebbar ist, mag man in der hundertsten Tempelarbeit plötzlich einen ganz neuen Aspekt eines Symbols bzw. des Rituals erkennen. Dieses Phänomen macht deutlich, welch grossartiges Instrument der Erkenntnis und der persönlichen Entwicklung die Königliche Kunst ist.

Das Ritual und die profane Welt

Wer im Internet oder in einem Spielfilm eine Tempelarbeit betrachtet, mag an kirchliche Gottesdienste denken. Die Atmosphäre, die Gemeinschaft, der strikte Ablauf, die Kerzen, die Musik, die Rede und andere Elemente könnten die Analogie nahelegen. Doch es bestehen deutliche Unterschiede. Es geht z. B. in der maurerischen Arbeit nicht um eine Heilslehre, nicht um Sakramente oder ein einziges verbindliches Gottesbild. Es gibt keine frontale, alleinige Aktivität eines Priesters auf dem Podest.

Stellt sich die Frage, wie die profane Wissenschaft unsere Rituale sieht. Die Bilanz ernüchtert: Die Königliche Kunst ist weit weniger in deren Fokus als etwa Stammesriten oder Riten gesellschaftlicher Schichten. Umgekehrt weist Hans-Hermann Höhmann darauf hin, dass manche Freimaurer auch nicht darauf erpicht sind, externe Modelle auf ihre Domäne anzuwenden. Und wenn sie das täten, so meist ohne Berücksichtigung des angesprochenen «performative turn».

Im Hinblick auf die profane Welt spielt der innere Tempelbau eine zentrale Rolle. Er verhält sich zum äusseren Tempel ganz im hermetischen Sinn von «Wie aussen, so innen; wie innen, so aussen». Der äussere Tempel ist mit der Energie der symbolischen und rituellen Elemente ein buchstäbliches Kraft-Werk, das den Bruder in seinem Innersten tauglich macht für sein Wirken im Profanen. Abt Suger (1081–1151) hat im Jahr 1140 an der legendären Kirche in Saint-Denis eine Inschrift anbringen lassen, die wir Freimaurer uns hin und wieder vor Augen halten können: «Edel erstrahlt das Werk, doch das Werk, das edel erstrahlt, soll die Herzen erhellen, so dass sie durch wahre Lichter zum wahren Licht gelangen.» T. M.