Mythos mit vielen Facetten

Es gibt einen Überlieferungsstrang in der hermetischen Literatur, der eng mit Hermes Trismegistos verbunden ist. Ausgehend von Ägypten, vermittelte er der Antike, dem Mittelalter und der Renaissance wichtige Impulse. Gerade die Alchemie griff auch später auf ihn zurück. Und noch heute fasziniert diese Gestalt.

Von den Brr∴ A. S., Loge «Humanitas in Libertate» i∴O∴ St. Gallen & T.M.

Hermes Trismegistos ist eine sagenumwobene Figur, der unsere abendländische Kultur viel verdankt. Im Wesentlichen geht es dabei um Philosophie, Heilkunde und Alchemie, um Magie, Astrologie und Geheimwissenschaften unterschiedlichster Art. Diese Disziplinen lassen sich dem Oberbegriff der Hermetik zuordnen. Ausgehend von den alten Mysterienbünden, Bruderschaften und Initiationsgemeinschaften bis hin zu den Rosenkreuzern, Engbünden und Freimaurern begegnen Lehren des Hermes Trismegistos – «Trismegistos», «der dreimal Grösste», aus dem Grund, dass er zugleich der Grösste der Philosophen, der Priester und der Könige gewesen sei.

Symbole für den menschlichen Veredelungsprozess

Auch heute ist Hermes aus der esoterischen und okkulten Literatur nicht wegzudenken. Sein Bild zieht sich, wie angesprochen, wie ein roter Faden durch nahezu drei Jahrtausende. Es hat im Laufe dieser Zeit viele Wandlungen erfahren.

Bei den Römern wurde der griechische Hermes zum Mercurius mit dem Äskulapstab und dem geflügelten Helm, der quirlige Götterbote. In der Alchemie findet er sich als Hermes Trismegistos in Mercurium (Quecksilber) wieder. In den alchemistischen Lehren sind Salz, Schwefel und Mercurium entscheidende Kräfte im Mutationsprozess, d. h. in der Verwandlung der unedlen Metalle in edle, in der Verwandlung des Normalmenschen in den spirituell Erleuchteten.

In der Freimaurerei sind uns Salz, Schwefel und Mercurium als die drei gottgegebenen Substanzen bekannt, die mithilfe der vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde den Veredelungsprozess des Menschen symbolisch darstellen. Es ist ein evolutionärer Vorgang im Mikrokosmos. Auch im Aufbau unserer materiellen Welt finden diese Symbole als Makrokosmos ihre Entsprechung. Wie oben, so unten heisst die berühmte Aussage in der «Tabula Smaragdina». Diese gilt als Bibel der Alchemisten und der Hermetiker vom Mittelalter bis in die Neuzeit.

Ursprünge in Ägypten – und noch früher

Um Zugang zu Hermes Trismegistos zu finden, müssen wir uns dem alten Ägypten zuwenden, genauer: der Gestalt des Thoth. Schon von den ersten Dynastien an war Thoth neben der göttlichen Triade Osiris, Isis und Horus der wichtigste Gott. Er war der Bewahrer und Verkünder ägyptischer Weisheit und der Hüter der Initiation in die ägyptischen Mysterien. In Thoths Tempel wurde in der 12. Dynastie um 1900 v. Chr. das Zweiwegebuch konzipiert, eine erste Jenseitsbeschreibung, die man als ältestes hermetisches Werk bezeichnen könnte.

Neben der Ammon-Priesterschaft gab es auch eine des Thoth. Diese war, ihrem Gott entsprechend, Hüterin der Mysterientradition und der entsprechenden Einweihungen. Die Priester verfügten über alles damals vorhandene Wissen, von Geschichte , Mysterien, zeremonieller Magie und Alchemie über Astronomie, Geometrie und Magie bis zu Medizin, Jenseitskunde und Philosophie. Nur streng geprüften Auserwählten war es gestattet, Novize zu werden und nach jahrelanger Schulung Zutritt zu diesen Lehren zu erhalten.

Der Thoth-Tempel in Hermopolis hatte als Weisheits- und Mysterienschule nach der 18. Dynastie eine Ausstrahlung, die bis nach Griechenland reichte. Die bekanntesten der griechischen Philosophen fanden Zugang zu diesem Wissen, so auch Sokrates und Plato. Nach der Einweihung konnten sie ihre erworbenen Kenntnisse in den Hellenismus transferieren. Thoth-Hermes wurde in den hellenistischen Pantheon aufgenommen. Die eleusinischen Mysterien wären ohne die geistigen Kontakte zu Ägypten undenkbar gewesen.

Noch früher als in Ägypten setzt man den Ursprung der «prisca sapientia » an. Es handelt sich dabei um das Wissen, das Gott Adam und Moses offenbart hatte. In der «Hermetischen Kette», der neben Hermes Trismegistos und Zoroaster auch Pythagoras und Plato angehört haben sollen, sei dieses vorzeitliche Wissen tradiert worden. Hermes Trismegistos hat diesem Mythos zufolge die Hieroglyphen erfunden, um es vor profanem Zugriff zu schützen.

Thoth – Imhotep – Asklepios

Von Haremhab, dem Nachfolger von Pharao Echnaton / Tutanchamun, ist uns ein Hymnus an Thoth erhalten geblieben. In diesem heisst es, er sei «Gott der Allwissende, der alle Geheimnisse kennt, der das Wesen der Menschen und Götter durchschaut und Ra über alles, was geschieht, Meldung erstattet».

Neben Toth, der in Ägypten zum Gott erhoben worden war, fand auch Imhotep, der Schreiber und Baumeister, schon 2650 v. Chr. als Verkörperung der Weisheitslehren Eingang in die ägyptisch-griechische Mythologie. In der 26. Dynastie wurde Imhotep in den Gottesstatus erhoben. Imhotep- Asklepios wurde zum Heilgott, sein Symbol war der Asklepiusstab. Clemens von Alexandrien kannte im 5. Jahrhundert v. Chr. Hermes den Thebaner und Asklepios den Memphiten. Er sah in beiden Gestalten allerdings Menschen mit höchstem Weisheits- und Wissensstand, jedoch keine Götter.

Die Traktate im «Corpus Hermeticum » geben sich als Verkündigung des Hermes Trismegistos und seines Sohns Asklepios. Sie sind u. a. in Brief- und Dialogform verfasst und übten grossen Einfluss auf die christliche Gnosis des 3. und 4. Jh. n. Chr. aus. Hermes werden neben dem «Corpus Hermeticum» folgende Werke zugeschrieben: das «Kybalion», die «17 Bücher des Hermes Trismegistos» und die «Tabula Smaragdina». Diese ist für die Alchemisten, Hermetiker und Okkultisten das wichtigste Werk. Die Texte dokumentieren das uralte, zeitlose philosophisch-mystische Wissen bis in die Neuzeit. Zudem sind sie ein Beleg dafür, wie sich über Jahrhunderte hinweg eine hermetische, von der Kirche unabhängige Tradition erhalten konnte, deren Fragmente in die Freimaurerei und andere geistige Bewegungen einflossen.

Der rote Faden durch die Jahrtausende ist nicht abgerissen. Vielmehr besteht er weiter und ermöglicht es, uns für die Zukunft zu rüsten.