Wie viele bin ich?

Wer von der multikulturellen Gesellschaft spricht, kommt um ein Thema nicht herum: die Identität. Diese spielt eine zentrale Rolle, ist aber schwer zu fassen. Kann man zugleich mehrere Identitäten haben? Ja, soll man das gar? Der indische Wirtschaftswissenschafter und Philosoph Amartya Sen hat dazu Thesen formuliert, über die nachzudenken sich lohnt.

Amartya Sen, 1933 in Bangladesh geboren, studierte Ökonomie und Mathematik und war Professor an weltweit führenden Institutionen wie der London School of Economics und den Universitäten von Oxford und Harvard. Sein Herkunftsland Indien weist bis heute brisante gesellschaftliche Spannungsfelder auf. Stichworte sind die Kastenordnung, die Rolle der religiösen und ethnischen Subkulturen, der Stellenwert der Frau. Bei allen diesen Themen zeigt sich, dass mit der multikulturellen Gesellschaft auch Fragen der Identität verbunden sind. Das nahm Sen zum Anlass, 2007 ein Buch zu veröffentlichen mit dem Titel «Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt». Es ist zu einem Standardwerk geworden.

Mehrfache Identitäten

Sen nimmt kein Blatt vor den Mund. So bezeichnet er starke religiöse und ethnische Identitäten als Ursachen für Gewalt. Diese beruhe auf einem Irrtum. Die beteiligten Menschen reduzierten das Individuum auf eine einzige Identität und die mit dieser Identität verbundenen Klischees. Sie sehen also «nur» den Muslim, «nur» den Hutu, «nur» den Serben. Die westlichen Medien und Wissenschafter würden diese Sichtweise aufgreifen und noch verstärken. Die Aufgabe wäre vielmehr, «plurale», also mehrfache Identitäten zu fördern.

Konkret bedeutet das, dass es keine Konfessionsschulen geben darf.

In seinem Buch formuliert Sen eine ganze Liste von Teil- Identitäten: «Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bengalischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischem Gebiet, Autoren, Sanskritisten, entschiedene Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Männer, Feministinnen, Heterosexuelle, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, Menschen mit einen areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmanen und Ungläubige, was das Leben nach dem Tod (und, falls es jemanden interessiert, auch ‘ein Leben vor der Geburt’ angeht).»

Sen betont, dass bestimmte Identitäten nicht einfach gewählt werden können. Sie sind z. T. angeboren wie die Hautfarbe, die Gegend und Ethnie, denen ein Mensch entstammt. Aber es bestehen gleichwohl Freiheiten bzw. Wahlmöglichkeiten. Sen kommt hier kritisch auf die These des «Kampfs der Kulturen» («Clash of Civilizations») zu sprechen, mit welcher der amerikanische Autor Samuel Huntington 1996 Furore gemacht hat. Huntington postulierte, dass es im 21. Jahrhundert zu Konflikten zwischen verschiedenen Kulturräumen kommen werde, v. a. der westlichen mit den chinesischen und islamischen Kulturen. Einer seiner Schlüsselbegriffe ist die «Bruchlinie» („fault line“). Bruchlinienkonflikte seien solche zwischen Gemeinschaften, Staaten oder Gruppen, die unterschiedlichen Kulturkreisen angehören. Aus ihnen könnten sich Bruchlinienkriege entwickeln, die manchmal auch innerhalb eines Staates ausgetragen würden. Sen ist weit differenzierter als Huntington mit dessen Schlagwort «The west against the rest». Er beweist das mit einem Beispiel: Es sei zu unterscheiden zwischen dem islamistischen Terror und den Muslimen. Muslime könnten zugleich auch Demokraten, Pazifisten oder Frauenrechtler sein.

Globalisierung und Wahlfreiheit

Sen empfiehlt Vorsicht vor dem Modell einer «friedlichen Koexistenz». Diese meine ein Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen, biete aber keine Durchmischung. Zudem verdienten nicht alle kulturellen Eigenheiten Respekt. Man kann in diesem Zusammenhang an die Beschneidung von Mädchen denken, an Zwangsheiraten oder Ehrenmorde. Das Ziel müsse vielmehr ein «liberaler Multikulturalismus » sein. Konkret bedeutet das, dass es keine Konfessionsschulen geben darf. Sen schreibt dazu: «Es ist dringend geboten, nicht nur über die Bedeutung unseres gemeinsamen Menschseins zu sprechen – ein Thema, bei dem die Schulen eine wichtige Rolle spielen können (und in der Vergangenheit oft gespielt haben).» In den Schulen sollten die Grundlagen für ein rationales Verständnis der Identität geschaffen werden: «Wichtig ist auch die Einsicht, dass menschliche Identitäten vielerlei Gestalt annehmen können und Menschen ihren Verstand gebrauchen müssen, wie sie sich selbst sehen und welche Bedeutung sie dem Umstand beimessen sollten, als Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft geboren zu sein.»

Es sei falsch, Menschen zur Wahl zwischen Teil-Identitäten zu zwingen.

Sen kommt ausführlich auf die Globalisierung zu sprechen. Er bemängelt, dass sich die Kritik an einer einseitig auf die Ökonomie beschränkten Sicht mit kultureller Abschottung vermischt. Aber er ist durchaus der Meinung, dass die Gewinne weltweit gerechter zu verteilen sind, um Konflikte zu verhindern. Es gehe insbesondere darum, die Globalisierung von Ideen und Wissen voranzutreiben und weltweit eine demokratische Kultur zu fördern. Diese, so Sen, sei nötig, damit die Menschen von der Freiheit Gebrauch machen können, um plurale Identitäten zu wählen. Das mag idealistisch anmuten. Zugleich ist aber eine von Sens Hauptleistungen das Differenzieren. So lehnt er die Vorstellung eines einheitlichen Abendlands ab, die im Orient weit verbreitet ist. Oder er betrachtet es als Fehler, Werte wie Freiheit oder Demokratie nur deshalb abzulehnen, weil sie aus dem Westen stammen.

Eine multikulturelle Welt erfordere, dass die Pluralität von Identitäten mit einer liberalen Gesinnung einher gehen müsse. Es sei falsch, Menschen zur Wahl zwischen Teil-Identitäten zu zwingen. Vielmehr gehe es darum, eine Vielfalt der Identität anzubieten. Das bedeute z. B., dass Menschen nicht zwischen Kopftuch und liberalem Selbstverständnis wählen müssen, sondern beide Elemente als vereinbar betrachten.

Einschränkungen

Was könnte man an Sens Thesen in Frage stellen? Einmal geht er notwendigerweise von einem liberalen Selbstverständnis aus. Wie soll man dieses etablieren? Zudem haben die Menschen zwar Ansätze zur Vielfalt von Identitäten, müssen diese aber nicht bejahen. Und schliesslich gibt es eine fatale Tendenz: Gerade ausgegrenzte, erniedrigte Menschen suchen Halt in singulären Identitäten. Trotz diesen Vorbehalten hebt sich Sens Ansatz von konfrontativen Modellen ab und gibt Impulse für eine gelingende Multikulturarität. T. M.