Eine Sehnsucht, die nicht altert

Was ist nicht alles mit Glück in Verbindung gebracht worden! Man könnte damit Bände füllen. Immerhin einen Band hatte der deutsche Autor und Philosoph Ludwig Marcuse (1894–1971) zusammengestellt. Er zeigt vom Alten Testament bis zu Freud ein Panoptikum von Glücksvorstellungen auf und entwickelt ein Modell des Glücks, wie es dem heutigen, «tragischen» Menschen noch möglich ist.

«Das Wort Glück hat in allen Sprachen etwas Vieldeutiges. Es ist wie eine Sonne, um die eine Schar von Wort-Trabanten kreisen: Behagen, Vergnügen, Lust, Zufriedenheit, Freude, Seligkeit, Heil. Jede dieser und ähnlicher Vokabeln hat dann und wann die Sonne gespielt, das Wort Glück vertreten – stand aber dann und wann im heftigsten Gegensatz zum Glück. So ist das ‚Glück‘ mit Bedeutungen schwer beladen.»Der dies schrieb, zählte zu den hellsichtigsten Diagnostikern seiner Zeit, deren Wechselfälle er in seiner Familie und am eigenen Leib erlebte: der deutsch-jüdische Intellektuelle Ludwig Marcuse./p>

«Geradezu talmudische Gedankenschärfe»

Marcuse studierte in Berlin Philosophie, Mathematik, Geschichte und Literaturwissenschaft und promovierte zum Thema «Die Individualität als Wert und die Philosophie Friedrich Nietzsches.» Bis 1933 arbeitete er als Schriftsteller und freier Journalist. Er ging darauf ins französische Exil. 1939 wanderte er in die USA aus und erhielt dort 1945 das Bürgerrecht. 1947 berief ihn die University of Southern California, Los Angeles, zum ordentlichen Professor für Philosophie und deutsche Literatur. Ab 1962 lebte er in Bayern.

Für den deutschen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war er ein «Querkopf», «aber weder ein Nörgler noch ein Krakeeler, ein unermüdlicher Polemiker, aber kein kleinlicher Besserwisser, ein streitbarer Geist, aber kein Fanatiker – es sei denn, ein Fanatiker des Antifanatismus.»

Er setzt mit Hiob an, dieser gebeutelten, zutiefst gläubigen Figur des Alten Testaments

Marcuse schrieb Biographien von so unterschiedlichen Männern wie Heine, Strindberg und Ignatius von Loyola. Sein humanistisches Wissen war immens. Zudem verfügte er, in den Worten eines Zeitgenossen, über eine «geradezu talmudische Gedankenschärfe». Doch für die wissenschaftliche Fachwelt war er zu wenig systematisch, und er liess sich keiner wie immer gearteten Schule zuordnen. Er ist denn auch vielenorts in Vergessenheit geraten – im Gegensatz zu seinem Namensvetter Herbert Marcuse (1898– 1979), der mit seiner Kritik an Autoritäten und Repression zu einer wichtigen Referenz der 68er Bewegung wurde.

Glück – «mehr als eine Vokabel»

1949 erschien «Die Philosophie des Glücks». Marcuse schreibt über Hiob und Hans im Glück, über Epikur und Freud, über weniger bekannte Männer wie den byzantinischen Mönch und Minister Constantin Psellus (1018– ca. 1078). Es begegnen u. a. der Buddhismus, Tolstoi und Nietzsche. Für Marcuse ist das Glück eine der «Sehnsüchte, die nicht altern». Seit jeher würden sich die Menschen mit diesem schwer greifbaren Gut befassen, und seit jeher gehe es der Philosophie darum, dies zu ermöglichen.

Von biblischen Zeiten bis in die Gegenwart führt uns Marcuse durch ein Panoptikum der Glücksvorstellungen. Er setzt mit Hiob an, dieser gebeutelten, zutiefst gläubigen Figur des Alten Testaments, die – und hierin liegt Marcuses Pointe – bei Gott sein Recht auf Glück einfordert und erhält. Hiob ist, so Marcuse, «der erste Philosoph des Glücks». Des Weiteren begegnet der Epikureer Ecclesiastes, «den man als den trübsten Griesgram der Weltgeschichte zu zitieren pflegt», einer «jener glückseligen Tragiker, die Trotzdem sagten». Marcuse spricht von Seneca und dessen «Stoiker-Glück», begründet auf dem «Erlebnis der Unabhängigkeit, der Freiheit, des Mir-kann-nichts-geschehen». Er schildert Augustinus‘ Vorstellung des Glücks, die auf dem Glauben an seinen Erlöser beruhe. Sehe Robert Owen in einer glücklichen Gesellschaft die Voraussetzung für individuelles Glück, so stehe für den «russischen Glücks-Sucher Leo Tolstoi» die „«Etablierung des inneren Reichs eines glücklichen Heiligen» im Zentrum. Als jüngste Stimme führt Marcuse Freud an. Er zitiert ihn, nicht ohne eine gewisse Häme, wie folgt: «Die Absicht, dass der Mensch ‚glücklich‘ sei, ist im Plan der ‚Schöpfung‘ nicht vorgesehen.» Und: «Es ist das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt.»

Skeptiker und Individualist

Marcuses Sicht ist einem fundamentalen Skeptizismus geschuldet. Nach der Ära des «gläubigen» und jener des «ungläubigen» Menschen befänden wir uns jetzt im Zeitalter des «tragischen» Menschen, wie ihn etwa Nietzsche postuliere. In anderen Worten: «Wer für das Glück in der Geborgenheit einen Sinn sucht, ist verloren, da der Mensch keinen Sinn finden kann. Die grossen Religionsstifter und Philosophen bis zu Schopenhauer versorgten den Menschen oft mit einer Geborgenheit im Glück, die nie lange hielt. (…) Wer glaubt, ein sinnloses Leben nicht führen zu können, soll sich umbringen.»

Nach dem Zweiten Weltkrieg war ihm der Kommunismus ebenso ein Gräuel wie der Kreuzzug gegen den Kommunismus

Marcuse war – man denke an seine Dissertation – radikaler Individualist. Er lehnte jede Verheissung kollektiven Glücks ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ihm der Kommunismus ebenso ein Gräuel wie der Kreuzzug gegen den Kommunismus. Ideologien, so seine Überzeugung, würden den Menschen entmündigen und nie zum Glück führen. Er erwähnt, dass der Begriff «Glück» für gewisse Stalinisten ein

konterrevolutionäres Unwort sei. Ist denn Glück, so die letztlich epikureische Überlegung, Sache des Individuums, so wirft das den Einzelnen auf sich selbst zurück. Er mag zwar wie Hans im Glück erkennen, dass das Glück in ihm selbst liege. Doch, so fragt Marcuse, «wo in mir? (…) Dieses Ich (…) ist ein höchst mysteriöses Gelände.» Zudem müsse jeder Mensch seinen eigenen Weg finden. Im Hinblick auf all die Männer, die er anführt, lässt Marcuse den Leser wissen: «Zwar gibt es Vorbilder, denen man abgucken kann, wie sie es gemacht haben. Einigen wird sich der lesende Glückssucher verwandt fühlen. Sie werden ihn in die Richtung und auf Ideen bringen. Er wird sie aber abwandeln müssen, weil sein Naturell, weil die persönlichen Umstände, die Gruppe, zu der er gehört, eine Variante verlangen.»

Wollte man aus der Fülle von Marcuses Buch eine Bilanz ziehen, so könnte man sich an den letzten Satz des Schlussworts halten: «Der Mensch muss bescheidener werden.» T. M.

 

Ludwig Marcuse, Philosophie des Glücks. Von Hiob bis Freud. Diogenes Verlag, Zürich 1972ff. ISBN 978-3-257-20021-8.