Von Sokrates bis zur Gegenwart

Das Abendland zeichnet sich durch reiche Traditionen aus. Über unterschiedliche Epochen sind Gedanken und Werte auf uns gekommen. Der Mensch steht dabei immer wieder im Zentrum. Seine Würde, seine Freiheit, seine auf Vernunft basierende Eigenständigkeit gilt es bis heute zu leben und zu verteidigen. Die Freimaurerei hat daran keinen geringen Anteil.

Es begann im Jahr 480 v. Chr., als die Griechen im Sund von Salamis die Perser aus dem Orient endgültig besiegten und damit den Aufstieg Griechenlands und die Entwicklung einer westlichen Zivilisation ermöglichten, die uns Demokratie, Menschenrechte, persönliche Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung und Gleichheit bescherte. Im deutschen Sprachgebrauch ist es das Abendland oder – wie in den meisten anderen Sprachen üblich – der Okzident, dessen Errungenschaften die «westlichen Werte» sind.

Die geografische Verbreitung des Abendlandes ist nicht klar definiert. Der Westen ist die Region, in der die obigen Werte Gültigkeit haben. Sicher gehören dazu die Nachfolgegebiete des weströmischen Reiches, also Westeuropa, hinzu kommen Nordamerika, Australien Neuseeland und Israel.

Nachfolgend sollen die wichtigsten Perioden der Entfaltung des Westens mit Blick auf die Freimaurerei aufgezeigt werden. Dabei wird ersichtlich: In der Geschichte des Abendlandes – und nur hier – finden sich die tiefen und weitverzweigten Wurzeln der Freimaurerei.

Antike

Es ist gesagt worden, dass nach den alten Griechen nichts Neues mehr erfunden worden ist. Sie waren in der Lage, aus Verstand, Beobachtung und Erfahrung Schlussfolgerungen zu ziehen, Regeln aufzustellen und danach zu handeln. Davon leiteten sie die Tugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mässigung und Klugheit ab.

«Wer bin ich?» fragte Sokrates. Die Antwort findet sich an der Tempelinschrift in Delphi: «Erkenne dich selbst». Sein Schüler Platon sieht die Welt mit dem Auge des religiösen Mystikers. Er ist der Idealist und leitende Geist des religiösen Denkens. Gott hat den Kosmos geschaffen als eine Kopie seiner selbst, der Weltseele. – Platon überlegt und entscheidet. Aristoteles ist der Realist, der Mann der Wissenschaft mit gesundem Menschenverstand. Aristoteles will Fakten sehen, sein klarer Blick folgt der Macht der Logik und der Anlayse. Die Wirklichkeit ist nicht das, was unsere Überlegungen ergeben, sondern was wir nachweisen können. – Aristoteles experimentiert und entscheidet auf Grund der sich daraus ergebenden Resultate. Kein Denker des Abendlandes wird sich in den kommenden 2500 Jahren – also bis heute – diesen beiden Giganten und dem damit verbundenen Dualismus entziehen können.

Parallel entwickelten sich die Denkschulen der Epikuräer und der Stoa. Stoiker wollten als Individuum ihren Platz in der Weltordnung durch Selbstbeherrschung, Gelassenheit und Weisheit erarbeiten. Sie waren pragmatisch, weltoffen und anpassungsfähig. Gegründet in Athen durch Zeno von Kition, in Rom weiterentwickelt durch Seneca und den Philosophenkaiser Marc Aurel, ist ihr Denken auch in die Aufklärung eingeflossen. Stoisches Denken prägt die freimaurerischen Rituale.

Bibel

Das Abendland ist religiös geprägt durch das Christentum. Dieses wäre undenkbar ohne das jüdische Erbe. Stichworte: Monotheismus, parallel geführte Macht von Kirche und Staat. Die Bibel verfährt historisch nicht immer korrekt, aber ewig wahr als Legendensammlung für alles, was Menschen im Guten und Bösen zustande gebracht haben. Die Geschichte vom Tempelbau Salomons und von Hiram ist vermutlich eine Fabel, aber in ihrer symbolischen Aussage nicht nur für Freimaurer von Belang. Die Einleitung zum Johannesevangelium ist geprägt von der Denkweise Platons. Die Bibel ist ein Fenster zum Mittelmeer und damit in den Entwicklungsraum des Abendlandes.

Renaissance

Nach dem Zerfall der Antike und dem Sieg des Christentums wurde antikes Gedankengut eliminiert oder angepasst. In der Renaissance entdeckte man die antike Kunst, Architektur, Literatur und Philosophie wieder. Mit dem Humanismus wurde das Gott-zentrierte Weltbild abgelöst durch ein Mensch-zentriertes.

Mit den von Marsilio Figino übersetzten und kommentierten Texten Platons aufersteht der religiös-metaphysische Neuplatonismus. Durch die Gnosis wird die Bedeutung des Lichts als Symbol für das Wahre, das Leben, das Gute klar, durch die Kabbala die Bedeutung der Zahlen. Der Alchemist läutert sich auf der Reise durch die Elemente. Der sensationelle Fund von Lukrez‘ «De rerum natura», vermutlich in der Klosterbibliothek in Fulda, ruft die antike Theorie der Atome und die Lehre der Epikuräer in Erinnerung. Botticellis Venus, Giordano Brunos These «Wir müssen die Gottheit nicht suchen, sie ist in uns» sind Folgen.

Aufklärung

Im Mittelalter bestimmten Kirche und Kaiser die Gesellschaftsordnung. Renaissance und Reformation wandten sich dagegen. Der Engländer John Locke befand, dass der Monarch nur mit Einwilligung der Bürger regieren darf. Voltaire stiess mit seinem «Ecrasez l’infâme » den Papst vom Thron. Immanuel Kant definierte die Aufklärung klar und endgültig: «Aufklärung ist die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.»

Im vernunftbestimmten Menschen steckt viel. Er soll sich erforschen, an sich glauben. Die Lehren der antiken Philosophen wurden wieder aktuell. Die modernen Naturwissenschaften entstanden, der Liberalismus ermöglichte wirtschaftlichen Erfolg für jeden Tüchtigen. Wesentliche Träger dieser neuen Gedanken waren die Freimaurer. Die Logen der alten Bauhandwerker wurden umfunktioniert zu Stätten der Belehrung und Begegnung. Nicht alle Freimaurer waren damit einverstanden. Gegenaufklärer befanden, dass es nicht nur die sichtbare Welt gibt (Aristoteles), sondern auch eine letztlich unerklärliche, mystische (Platon). Insbesondere als die Maurerei sich bald auch in Frankreich verbreitete, flossen neuplatonische Elemente, Gnosis, Alchemie, Kabbala in die Rituale ein. Es ist eine grossartige und einmalige Leistung der Freimaurerei, dass diese beiden Strömungen, die sich auch widersprechen, im Ritual vereint sind.

Neuzeit

Grösste Wirkung entfaltete die Aufklärung zunächst in den englischen Kolonien Nordamerikas. Die Gründungsväter Franklin, Jefferson, Washington, Adams folgten den Lehren Lockes. Sie studierten die Texte der antiken Philosophen (George Washington: «Ich bin ein Epikuräer»). Die meisten waren Freimaurer. Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 war die Folge, sie ist ein Dokument der Aufklärung. In der Verfassung der USA stehen Sätze aus den Alten Pflichten. Aus ihr stammen Regeln, die bis anhin nicht existierten: allgemeines Wahlrecht, Religionsfreiheit, freie Meinungsäusserung, Versammlungsfreiheit. 1789 folgte die Revolution in Frankreich, brutal und blutig, aber am Ende führte auch sie zur Überwindung des Ancien Régime. Auch die Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft steht in dieser Tradition. Freimaurer wie Jonas Furrer waren massgeblich beteiligt. Inzwischen haben die Werte des Abendlandes auch finstere Ideologien wie Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus besiegt.

Der Westen ist keine blosse ideologische Fiktion. Wie wertvoll die gewonnenen Freiheiten sind, kommt jeweils dann zum Bewusstsein, wenn sie bedroht werden. Wie vielleicht kaum je zuvor müssen die Werte des Abendlandes heute verteidigt werden. Ob das Abendland überlebt, hängt letztlich auch von uns ab: Bleiben wir ihnen auch in turbulenten Zeiten treu?

Hans Bühler, alt Grossmeister, Loge «Labore in Virtus» i. O. Zürich