Patchwork statt grosse Würfe

Gewiss: Der Überschwang, mit dem die Epoche der Postmoderne postuliert wurde, ist vorbei. Doch als Zeitdiagnose sind die Werke eines Michel Foucault, eines Jacques Derrida oder eines Jean-François Lyotard bis heute wertvoll. Das betrifft gerade die Stellung des Individuums, seine Lebensbedingungen und die Möglichkeiten, mit diesen umzugehen.

Lyotard, ein französischer Sozialwissenschaftler, erhielt Ende der 1970er Jahre vom Universitätsrat der Regierung von Quebec den Auftrag, einen Bericht über das Wissen in den am höchsten entwickelten Gesellschaften zu verfassen. Das Resultat, ein Werk mit dem Titel «La condition postmoderne», erschien 1979. Der Herausgeber der heute geläufigen deutschen Ausgabe spricht aus, was vielen Lesern Mühe bereiten kann: «Der Ruf des Buches liegt aber mehr in seinem Ideenreichtum begründet als in seiner sprachlichen Gestaltung (…).»

Das Ende der «grossen Erzählungen»

Lyotard stellt eine Auflösung tradierter Werte und Denkmodelle fest. Das gilt für die Familie, die Gesellschaft, die Wirtschaft und andere Bereiche mehr. Die Informatik hat darauf grossen Einfluss. «Wir haben es», so der Berliner Psychologe und Psychotherapeut Klaus-Jürgen Bruder, «nicht mehr mit Dingen, sondern mit Immaterialien zu tun. Bei diesen kann jene scharfe Trennungslinie zwischen Geist und Materie, Subjekt und Objekt nicht mehr gezogen werden, durch die sich das neuzeitliche Subjekt konstituierte.»Das Zeitalter der «grossen Erzählungen», so eine Formulierung Lyotards, ist vorbei. Umfassende, in sich geschlossene und unhinterfragte Systeme würden die heutigen Verhältnisse weder legitimieren noch geeignet sein, sie weiterzuentwickeln. Lyotard führt drei solcher «Erzählungen» an: die Aufklärung, den Idealismus und den Historismus. Doch er lehnt die aufklärerische Rationalität keineswegs ab. Es darf, so Klaus-Jürgen Bruder, durchaus von einer «Fortführung, Verflüssigung, Verwirklichung» des aufklärerischen Diskurses gesprochen werden, aber nur im Rahmen von Pluralität und Toleranz bzw. «kleinen Erzählungen».

Die «Entmachtung des Subjekts»

Die Welt verliert für das Individuum an Übersichtlichkeit und Vorhersehbarkeit. In der postmodernen Literatur begegnet dafür eine Metapher: Wir bewegen uns wie ein Kreuzfahrtschiff von einem Archipel zum nächsten, ohne zu wissen, was noch auf uns zukommt.

Ein zentraler Aspekt ist, wie sich der Schweizer Kunstund Medienwissenschafter Beat Wyss ausdrückt, die «Entmachtung des Subjekts». Man sieht sich an Sigmund Freud erinnert. Er hat bereits 1917 die Formel geschaffen: «Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus.» Das Unbewusste nehme einen derart grossen Teil unseres Seelenlebens ein, dass das Bewusste und Rationale lediglich eine untergeordnete Rolle spielten. Sechs Jahrzehnte später lassen die postmodernen Autoren eine weitere, noch radikalere «Kränkung» folgen.

Das Individuum ist nicht mehr Urheber seiner Biographie

Nur: Wenn sich das tradierte Verständnis des souveränen Subjekts nicht mehr aufrechterhalten lässt, wie kann man das Ich anders definieren? Folgt man Lyotard, so sind es sprachliche Praktiken, nach dem österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein benannte «Sprachspiele», die an die Stelle einer in Stein gemeisselten Identität treten. Diese sprachlichen Akte sind, so Lyotard, «Gegenstand eines expliziten oder impliziten Vertrags zwischen den Spielern» und müssen bestimmten Regeln folgen. Und schliesslich gilt: «Jede Aussage muss wie ein in einem Spiel ausgeführter Spielzug betrachtet werden.» Es sind also «Redestrukturen, die die Welt konstituieren», und keine metaphysisch oder anders postulierten festen Grössen namens «Ich». Dieser Gedanke hat eine beträchtliche Tragweite, hebelt er doch aus, wie wir uns in der herkömmlichen Auffassung verstehen.

Leben in Dilemmata

Das Individuum ist nicht mehr Urheber seiner Biographie. Daraus ergibt sich das Dilemma zwischen individueller Haftbarkeit und dem Ausgesetztsein gegenüber Regulierungen und Mechanismen, die es nicht beeinflussen kann. Es kann zwar die Entwicklungen etwa in der Arbeitswelt nicht mitgestalten, muss aber die Konsequenzen tragen. Es verfügt nicht unbedingt über die mentalen, sozialen und materiellen Ressourcen, unter diesen Umständen ein gelingendes Leben zu gestalten.

Eine weitere Schwierigkeit rührt daher, dass sich Stabilität und Identität stiftende Bezüge so sehr vervielfachen, dass sich das Individuum nicht mehr als konsistente Persönlichkeit erfährt. Es wird vielmehr zu einem «Patchwork»- Subjekt, das kein In-dividuum (Nicht-Teilbares) mehr ist. Es ist mit einem Wirrwarr von Teilidentitäten konfrontiert – unter religiösen, sozialen, geschlechtsspezifischen und anderen Aspekten. Damit befindet es sich in einer Art Dauer-Ambivalenz und muss die Kompetenz erlangen, damit umzugehen. Der Schweizer Soziologe Peter Gross hat von einer «Multioptionsgesellschaft» gesprochen, die viele Zeitgenossen überfordere.

Das Ich als Projekt

Lyotards Sicht könnte pessimistisch stimmen. Sein Landsmann Foucault hat das erkannt. Er zeigt, so Klaus-Jürgen Bruder, auf, «dass nicht notwendig jede Form von Selbstbezug oder Subjektinstanz gescheitert ist. Ebenso wenig müssen der Traum der Freiheit, die Hoffnung auf Änderung oder ratio oder Verstandesdenken als angemessene Orientierungsmittel des Subjekts überhaupt aufgegeben werden.» Vielmehr gelte es das Ich als ein Experiment, ein Projekt, als Schatz von Optionen zu verstehen.

Das ist dann möglich, wenn der Einzelne für den Wandel – auch und gerade im Hinblick auf die eigene Person – offen ist, sich bemüht, mit Ambiguitäten zu leben, und sich nicht in ein Korsett unhinterfragter und unproduktiver Grundsätze zwängt. Es geht darum, Freude an der Freiheit zu entwickeln, nach neuen Antworten zu suchen, neue Wege zu wählen. Gerade in Literatur, Kunst und Architektur hat das zu interessanten Leistungen geführt. Es fällt indessen nicht jedermann leicht, «Architekt und Baumeister des eigenen Lebensgehäuses zu werden».

Aber es gibt dem Individuum Würde – eine Würde, die mit Selbstbescheidung verbunden ist. Das erinnert an die Königliche Kunst. Auch der Freimaurer versteht sein Leben als Entwicklungsprozess. Auch er muss, geht er seinen Weg ernsthaft, mit Unwägbarkeiten rechnen. Das Prinzip der Toleranz soll ebenfalls Dogmatismus verhindern. Die masonische Kultur ist jedoch, im Vergleich mit dem eher schwer lesbaren Vokabular postmoderner Intellektueller, weit einfacher und sinnenfälliger und deckt weit mehr die rationale, emotionale und spirituelle Ebene ab. Eine gewisse Verlorenheit des Individuums, wie sie bei Lyotard mitschwingen mag, kennen wir weniger. Die maurerischen Symbole und Rituale sind ebenso Wirkungskräfte wie Wegmarken. Das ist eine grosse Stärke, auch und gerade im Zeitalter der Postmoderne. T. M.