Duldung! Tätige Menschenliebe!

Humanität versus Fanatismus: Die Freimaurerei bezieht klar Stellung. Ja, es entspricht ihrem innersten Kern, Toleranz und Selbsthinterfragung zu praktizieren. Damit gewinnt sie nicht nur Freunde. Ein Blick u. a. auf einen neapolitanischen Philosophen, eine irritierende Formel und einen immerwährenden Kampf.

Es ist traurig, aber wahr: Der Fanatismus ist eine Möglichkeit des Menschen. Tröstlich stimmt, dass seit jeher auch die Gegenposition besteht. Das zeigt sich einerseits in epochalen Würfen wie der Aufklärung. Andererseits engagieren sich in dunkler Zeit wenige mutige Leute für das Humane. Der italienische Philosoph und Filmemacher Luciano de Crescenzo (* 1928) vertritt in diesem Zusammenhang eine Haltung, die uns Freimaurern in Manchem vertraut ist. Der Hintergrund: Er arbeitete zwanzig Jahre als IBM-Manager in Mailand – und litt. So erfand er für sich die Gestalt des neapolitanischen Lebenskünstlers und Freidenkers Bellavista, dessen Wohnort auch sein eigener geworden ist.

Rückblickend spricht de Crescenzo davon, vom Brandstifter zum Feuerwehrmann geworden zu sein. Als solcher verficht er mit Scharfsinn und Humor die Sache des Humanen. So gibt er zu bedenken, dass die Beschäftigung mit Philosophie so selbstverständlich sein sollte wie die Wehrpflicht. Fanatismus jeglicher Couleur ist ihm ein Gräuel.

Der Wert des Fragezeichens

Bellavista hat es zum Protagonisten des Romans «Also sprach Bellavista» gebracht. Die Philosophiestunden mit den kleinen Leuten aus der Nachbarschaft sind für den Leser ein Genuss. Die Kombination von Wissen, Schalk und Menschenliebe lässt schmunzeln. Doch Bellavista legt den Finger auch auf Menschliches, Allzumenschliches. Er ist – wie das de Crescenzo von sich selbst sagt – ein «Soldat des Rationalen», ohne verkopft zu sein.

Vielmehr darf eine gewisse Demut, aber auch Selbstironie ins Spiel kommen.

In einer seiner Philosophiestunden malt Bellavista ein Frage- und ein Ausrufezeichen an die Tafel und fragt in die Runde, welches wertvoller sei. Die Antwort wird man erraten: Es ist das Fragezeichen. Ein offener Horizont steht dem Menschen mehr an als ein geschlossener. Neugier ist wertvoller als vorgefertigte Antworten. Unterwegs zu sein wie Flaneure der Antike bzw. des heutigen Neapel ist ergiebiger als Bürostunden in Mailand.

Mut zur Relativierung

Geht man in diesem Zusammenhang 2500 Jahre zurück, so trifft man auf Sokrates. Er verstand sein Metier als «Hebammenkunst». So trat er unaufgefordert auf Leute zu und verwickelte sie in einen Dialog, der angestammte Gewissheiten relativiert, ja zunichte macht. Seine irritierende Formel: «Ich weiss, dass ich nichts weiss.» Die Selbsthinterfragung ist auch ein Element der Maurerei. Wir sprechen davon, dass wir unser Leben lang Lehrlinge bleiben.

Die unermüdliche Arbeit am rauen Stein, die Ablehnung jeglicher Selbstzufriedenheit, die Relativierung unserer Meinungen und Meriten: Das ist anspruchsvoll. Mit Egozentrik oder Fanatismus hat es nichts zu tun. Vielmehr darf eine gewisse Demut, aber auch Selbstironie ins Spiel kommen.

Das soll uns jedoch nicht daran hindern, in der profanen Welt dezidiert zu handeln. Lessings Motto für seinen Dialog «Ernst und Falk» bringt es auf den Punkt: «Duldung [sein Begriff für Toleranz]! Tätige Menschenliebe!»

Im kambodschanischen Steinzeitkommunismus des Diktators Pol Pot wurden zu Tausenden Brillenträger ermordet – als Verkörperung des verhassten Intellekts.

Der Fanatiker kennt derlei nicht. Sich selbst zu hinterfragen würde ihn verunsichern. Er will alles unter das Joch seiner Überzeugungen zwingen. Was denen nicht gemäss ist, hat in seinen Augen keine Daseinsberechtigung. Diese Haltung kann weit führen. Im kambodschanischen Steinzeitkommunismus des Diktators Pol Pot wurden zu Tausenden Brillenträger ermordet – als Verkörperung des verhassten Intellekts. Wer hinterfragt und relativiert, den kann man der Subversion verdächtigen. Kein Wunder, gerieten – und geraten – wir Freimaurer immer wieder ins Fadenkreuz von Kräften, die sich in ihrem Anspruch auf Wahrheit angegriffen fühlen. In päpstlichen Bullen war die Rede von Staatsgefährlichkeit, «Teufelszeug», einer «unreinen Seuche». Die Folgen: u. a. Hinrichtung und Galeerenstrafe. Heute muss der Bruder in Ländern wie Iran und Saudi-Arabien mit dem Todesurteil rechnen.

Stets gefährdet: das Humane

Wir Freimaurer setzen uns zum Ziel, das Gute im Menschen zu erkennen, zu formen und zu mobilisieren. Damit stehen wir im Gegensatz zum Fanatiker, der eine Dynamik des Unmenschlichen lostritt. Diese Auseinandersetzung ist nie abgeschlossen. Es wäre naiv, etwa die Aufklärung als einmal erfolgten und dann ewig währenden Richtungswechsel zu verstehen. Vielmehr gilt es Werte wie die Toleranz immer von neuem zu etablieren. Ein trauriges Beispiel ist Johann Christoph von Wöllner (1732–1800). Der preussische Staatsminister und Chef des Departements der geistlichen Angelegenheiten machte viel von dem zunichte, was unter Friedrich dem Grossen eingeführt worden war. Man hat ihn auch schon den Totengräber des alten Preussen genannt. Als Mitglied nicht nur der Freimaurer, sondern auch anderer Obödienzen fügte er der Sache mit abstrusen Machenschaften grossen Schaden zu. Man könnte ebenso an die Exzesse der Französischen Revolution denken. «Die Revolution», so ein berühmt gewordenes Diktum, «frisst ihre eigenen Kinder.»

Unsere Tempelarbeiten dienen nicht dazu, uns einzulullen. Vielmehr geht es darum, uns wacher zu machen.

Auch heute muss die Freimaurerei eine Position gegenüber erschreckenden Formen des Fanatismus finden. Neben anderen Grundsätzen ist die Toleranz in Gefahr. Man muss aber auch fragen: Gefährdet sie sich allenfalls selbst, indem sie zum «tout comprendre, tout pardonner» führt? Oder zeugt sie allenfalls davon, dass man den Konflikt scheut? Man denke auch an Goethes Formulierung: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heisst beleidigen.“

Man sieht: Die Politik rückt näher. Und von Politik innerhalb des Logenlebens distanzieren wir uns ausdrücklich. Auch religiöse Querelen sind in den Kolonnen fehl am Platz. Beim ABaW ist Raum für unterschiedliche Vorstellungen. Der Maurerei-Forscher Hans Hermann Höhmann spricht davon, dass die Logen «Wertegemeinschaften und keine Glaubensgemeinschaften» sind.

Wachheit vs. Rausch

Der Fanatismus lebt nicht zuletzt davon, dass er seine Anhänger einlullt. Man denke an die Grossaufmärsche der Nazis mit mehrfach besetzten Orchestern, Fackelzügen und «Lichtdomen» aus Flakscheinwerfern. In dieser Imponier- und Einschüchterungsästhetik ist der Einzelne lediglich Teil in einem Ganzen, dem er sich rückhaltlos unterzuordnen hat. Gross ist er nur in der Gemeinschaft. In anderen Worten: ein Rausch des Inhumanen.

Und die Freimaurer? Unsere Tempelarbeiten dienen nicht dazu, uns einzulullen. Vielmehr geht es darum, uns wacher zu machen. Der einzelne Maurer ist ebenso Individuum wie Teil der Länder und Zeiten überspannenden Bruderkette. Es geht um seine Individuation und nie um Selbstvergessenheit. Der Mensch ist, in Kants Worten, neben Mittel vor allem auch Zweck. Unser Element ist das Licht, nicht das Obskure. Wir stehen für unsere Sache ein, doch liegt es uns fern, ihr die Menschheit unterwerfen zu wollen. Der österreichische Psychologe Viktor Frankl (1905–1997) beschreibt das Verhältnis von Fanatismus und Toleranz in einem wunderbaren Bild: «Der Fanatiker klammert sich mit beiden Händen krampfhaft an ein Dogma. Der Tolerante hingegen hat die Hände frei und reicht sie dem Andersdenkenden. » T. M.