Was ist Wahrheit?

Wahrheit ist die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand. Liebe zur Wahrheit und Streben nach Wahrheit, kennzeichnet die Freimaurerei. Da die Königliche Kunst jenseits aller philosophischen Systeme steht, kann aber ihre Auffassung aus den Symbolen ihrer Rituale entnommen werden. Ungeachtet einer vollständigen Wahrheit, muss der Freimaurer nach Wahrheit streben. Das Kriterium der formal-logischen Wahrheit im Sinne Kants, sind die formalen Gesetze des Verstandes und der Vernunft.

G. R. – Osiris, Basel

Wahrheit ist nicht nur im freimaurerischen Sinn ein zentraler Begriff, sondern spielt auch im profanen Leben eine zentrale Rolle (Imhof, 2005). So hängen zum Beispiel Rechtsverständnis, Ethik und daraus resultierend allgemeine Regeln des Zusammenlebens, der Wissenschaft oder der Staatsorganisation vom Begriff der Wahrheit fundamental ab. In der Geschichte wurde Wahrheit zur Legitimation von Herrschaftsstrukturen oder auch als Rechtfertigung von Krieg verwendet. In der europäischen Kultur war der absolute Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche prägend, insbesondere, da sich dieser über den Bereich des Glaubens ausweitete und auch die Wahrheitsdefinitionen in Wissenschaft und Staatstheorie beeinflusste (Wolfstieg, 1922). Durch den Einfluss der Aufklärung und des Humanismus waren diese großen Veränderungen unterworfen und damit auch die Definition von Wahrheit (Jaspers, 1952). Ihr Wandel spiegelt sich in der Philosophie der Freimaurerei wieder, wo Wahrheit eine zentrale Rolle spielt. Wir betonen sowohl die Liebe zur Wahrheit als auch die Pflicht, nach der Wahrheit zu streben (Imhof, 2005). Weiter steht Wahrheit in der Freimaurerei in einem wichtigen Zusammenhang mit der Toleranz. Diese verlangt von uns, unterschiedliche Standpunkte nebeneinander bestehen zu lassen. Wir sehen, dass die Beschäftigung mit der Wahrheit uns ins Zentrum der freimaurerischen Philosophie führt (Imhof, 2005).Dieser Artikel soll keine Dogmenoder Richtlinien zur Wahrheit darlegen, sondern lediglich Gemeinsamkeiten zwischen einer ausgewählten Wahrheitstheorie, der Theorie der formallogischen Wahrheit, und den Lehren der Freimaurerei aufzeigen.

Begriff der Wahrheit

Was wir gemeinhin als Wahrheit bezeichnen, wird in der PhilosophieWahrhaftigkeit genannt (Jaspers, 1952). Kant (1787) versteht darunter:

„Daß das, was jemand sich selbst oder einem andern sagt, wahr sei, dafür kann er nicht jederzeit stehen (denn er kann irren); aber er muß dafür stehen, daß seine Bekenntniswahrhaft ist; denn dessen ist er sich unmittelbar bewusst. Er vergleicht nämlich seine Aussage mit dem Objekt (…); im zweiten Fall aber, da er sein Für-wahrhalten bekennt, mit seinem Gewissen.“ Hier erhält die Wahrheit eine starke moralische Komponente: Sie verlangt, dass wir das, was wir fürwahr halten, mit unserem Gewissen vereinbaren können. Erst dann sollten wir es vertreten. Wie aber kommen wir eigentlich zu dem, was wir für wahr halten?

Dazu möchte ich eine Theorie vorstellen, die sich genau mit diesem Problem beschäftigt. Die formallogische Wahrheit von Immanuel Kant (1787) geht von Wahrheit als Übereinstimmung gedanklicher Vorstellungen mit der Wirklichkeit aus (Höffe, 2007).

Wahrheit besteht demnach in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand (Kant, 1787). Eine Erkenntnis soll, um als wahr zu gelten, mit dem Gegenstand über einstimmen. Nun kann ich den Gegenstand nur dadurch mit meiner Erkenntnis vergleichen, dass ich ihn (den Gegenstand) erkenne. Meine Erkenntnis soll sich also selbst bestätigen. Wir müssen uns also fragen: Gibt es ein sicheres, allgemeines und in der Anwendung brauchbares Kriterium der Wahrheit? Denn das meint die Frage, was ist Wahrheit. Um sie zu beantworten, müssen wir das, was sich in unserer Erkenntnis auf die Sache bezieht, von der Form abtrennen. Mit Rücksicht auf den Unterschied zwischen dem Erkenntnisgegenstand (der Sache) und den formalen Bedingungen unserer Erkenntnis, zerfällt

Die Frage, was Wahrheit ist, in die zwei Teilfragen (Höffe, 2003):

  1. Gibt es ein allgemeines materielles Kriterium der Wahrheit?
  2. Gibt es ein allgemeines formales Kriterium der Wahrheit?

Allgemeines materielles Kriterium 

Ein allgemeines materielles Kriterium der Wahrheit, also dafür, was tatsächlich ist, ist nicht möglich. „Ein allgemeines, für alle Gegenstände gültiges Kriterium müßte von allen Unterschieden der Gegenstände abstrahieren und zugleich als ein materielles Kriterium auf eben diese Unterschiede eingehen. Dies wäre notwendig, um zu bestimmen, ob eine Erkenntnis mit einem bestimmen Gegenstand und nicht mit irgendeinem Gegenstand übereinstimmt. Denn eine Erkenntnis, welche für einen Gegenstand wahr ist, kann für andere Gegenstände falsch sein.“ Es ist daher unmöglich, ein allgemeines materielles Kriterium der Wahrheit zu finden. Wir sehen also, dass materielle Wahrheit einen stark subjektiven Zug trägt (Kant, 1787; Höffe, 2003).

Allgemeines formales Kriterium

Die Frage nach allgemeinen formalen Kriterien der Wahrheit bedeutet nichts anders als die Übereinstimmung der Erkenntnis mit den Gesetzen der Vernunft. Diese sind Sache der Logik (Kant, 1787). Die formallogischen Kriterien der Wahrheit sind:

  1. der Satz des Widerspruchs. Dieser verlangt,
    dass eine Aussage logisch möglich ist, d. h. sich nicht widerspricht. Dieses Kennzeichen der Wahrheit ist aber nur negativ, denn eine Erkenntnis, die sich widerspricht, ist zwar falsch; widerspricht sie sich nicht, ist sie deswegen aber noch nicht wahr. Dieses Verfahren, von dem in der Naturwissenschaft häufig Gebrauch gemacht wird, hat den Vorteil, dass ich aus einer Erkenntnis nur eine falsche Folge herleiten muss, um ihre Falschheit zu beweisen (Höffe, 2003).
  2. Der Satz des zureichenden Grundes verlangt, dass es 1) Gründe gibt und 2) keine falschen Folgen vorliegen. Dieses Kriterium der Wahrheit ist positiv.

Dabei gelten folgende Regeln (Kant, 1787):

  1. Aus der Wahrheit der Folge lässt sich auf die Wahrheit des Grundes schließen, allerdings nur negativ: Wenn aus einer Erkenntnis eine falsche Folge hervorgeht, so ist diese selbst falsch. Denn wenn der Grund wahr wäre, müsste auch die Folge wahr sein, weil diese durch den Grund bestimmt wird. Man kann aber nicht umgekehrt schließen: Wenn keine falsche Folge aus einer Erkenntnishervorgeht, so ist diese wahr; denn man kann aus einem falschen Grund wahre Folgen ziehen).
  2. Wenn alle Folgen einer Erkenntnis wahr sind, so ist auch die Erkenntnis wahr. Denn wäre nur etwas Falsches in der Erkenntnis, so müsste eine falsche Folge aus ihr hervorgehen.

Aus der Folge lässt sich also auf einen Grund schließen, ohne dass man diesen Grund bestimmen könnte. Nur aus der Gesamtheit der Folgen könnte man für einen bestimmten Grund schließen, dass dieser wahr ist. Dies aber ist in der Realität nicht möglich (Kant, 1787).

Zusammenfassend sehen wir, dass es kein allgemeines Wahrheitskriterium gibt für das, was ist. Es gibt jedoch klare Regeln, auf deren Basis wir Tatsachen interpretieren und Schlüsse ziehen können. Um Fehlschlüsse und unwahre Aussagen zu vermeiden, fordert Kant (1788):

  1. selbst zu denken
  2. sich in die Stelle eines andern zu denken
  3. jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.

Konsequenzen für den freimaurerischen Wahrheitsbegriff

Wahrheit ist im Grunde der dynamische Prozess des Wahrwerdens, dessen Quelle der persönliche Wille zur Wahrheit ist. Absolute Wahrheit würde den Erkenntnisortschritt verunmöglichen(Jaspers,1957). Liebe zur Wahrheit und Streben nach Wahrheit kennzeichnen die Freimaurerei (Imhof, 2003). Wir suchen nach Wahrheit, nicht nach Autorität. Dies geht aus dem Brauchtum unserer Symbole und aus unserer Literatur hervor, selbst wenn der freimaurerische Wahrheitsbegriff nirgends definiert wird. Meiner Auffassung nach ist die formallogische Wahrheit eng mit der Freimaurerei verknüpft. Wie wir oben gesehen haben, ist die materielle Wahrheit nur relativ. Dies hat Lessing (1778) in Einklang mit Kant (1787) wohl gemeint, als er in sagte, dass es für den Menschen niemals eine volle Wahrheit geben könne, dass der Mensch aber dessen ungeachtet nach Wahrheit streben müsse.

Die Wahrheit im freimaurerischen Sinne entsteht in einem Prozess, in dem jede Teilwahrheit eine Daseinsberechtigung hat. Die Betonung der Liebe zur Wahrheit und der Pflicht zur Erforschung der Wahrheit in der Freimaurerei will besagen, dass wir uns gegen Aberglauben und starre Autorität richten (Wolfstieg, 1922).

Die Wissenschaft beschreibt mechanisch die Wirklichkeit und ihre Gesetze, kann aber dem Menschen keine höheren Ziele weisen (Imhof, 2003). Der freimaurerische Forscher August Wolfstieg (1922) stellte fest: „Die Maurerei glaubt, bei aller Achtung für die Wissenschaft, an die im Grunde metaphysische Wahrheit einer sittlichen Weltordnung, die den Weg zur Vervollkommnung offen lässt und dadurch dem Leben einen Sinn verleiht.“ Aber auch diese überempirische Wahrheit ist den Gesetztender formalen Logikunterworfen, sodass diese eine wichtige Grundlage für die Ausbildung einer metaphysischen Wahrheit im maurerischen Sinn darstellen.