«Pro patria»: Höhere Weihen und Giftgas

Minderheiten, Revolutionäre, Liberale, Terroristen: Sie alle beanspruchten und beanspruchen den Begriff des «Vaterlands» für sich. Es ist ein arg strapaziertes Wort mit langer Geschichte. In der Antike war Vaterlandsliebe ein Zeichen persönlicher Integrität – eine Bedeutung, die es bis heute haben kann. Allerdings ist nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts Vorsicht geboten, und in der Postmoderne hat die Identifikation mit dem Vaterland an Bedeutung verloren.

T. M.

Süss und ehrenvoll» sei es, «fürs Vaterland zu sterben». Die Formel geht zurück auf den römischen Autor Horaz (65–8 v. Chr). Den Krieg zu verherrlichen lag aber nicht in seiner Absicht. Vielmehr wollte er aufzeigen, wie sich der Dienst unter den Waffen mit der epikureischen und der stoischen Lehre vereinbaren lässt. Es ging nicht um Propaganda, sondern um eine philosophische Fragestellung. Jahrhunderte später, 1916, sollte der Schüler Bertolt Brecht einen Aufsatz zu diesem Thema verfassen. Er kritisierte den Mythos vom Heldentod und wurde deshalb um ein Haar von der Schule verwiesen. Dieser Vorfall zeigt zwei Dinge, die vom Begriff des «Vaterlandes » nicht zu trennen sind. Da ist zum einen eine Tradition, die von der Antike bis heute reicht. Und da ist zum andern die Gefahr, dass mit dem hehren Begriff Schindluder getrieben, Menschen manipuliert, ja in den Tod getrieben werden.

Ein Begriff, viele Bedeutungen

Berühmt wurde er dank dem römischen Staatsmann, Philosophen und Schriftsteller Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.). In seinen Reden gegen den Verschwörer Catilina führt er mehrmals den Vaterlandsbegriff ins Feld. Das kulminiert in der Aussage, die «patria» sei ihm «teurer als sein Leben». Der Senat zeichnete ihn für seine Verdienste mit dem Titel «pater patriae» aus: «Vater des Vaterlandes». Im deutschsprachigen Raum geht der Begriff des «Vaterlands » ins 11. Jahrhundert zurück.

Er gehörte zum mittelhochdeutschen Vokabular. Ursprünglich bezeichnete das Wort das vom Vater stammende bebaubare Land. Die Semantik des Begriffs schien in immer neuen Varianten auf. In den Reformationskriegen des 16. Jhs. Bezeichneten sich die Hugenotten als «bon patriote». Sie versuchten so, sich gegenüber heftigen Anfeindungen zu legitimieren. Im 80jährigen Krieg (1568–1648) definierten sich die Kräfte um Wilhelm von Oranien als Widerpart gegen die spanische Fremdherrschaft. Als «Macht von unten» begriffen sich die Revolutionäre 1776 in den Vereinigten Staaten und 1789 in Frankreich: An die Stelle feudalistischer Strukturen traten demokratisch verfasste Nationalstaaten. Der «Code civil» von 1804 kam im Zuge der napoleonischen Kriege in die bürgerlichen Schichten anderer Länder. Nach dem Wiener Kongress von 1815 unterdrückten die reaktionären Fürstentümer das liberale Gedankengut. In der Schweiz allerdings war die Bundesverfassung von 1848 stark von einem liberalen Vaterlandsgedanken geprägt. Dabei waren auch Brüder Freimaurer beteiligt wie Jonas Furrer, der erste Bundespräsident. Ab ca. 1932 und bis in die 1960er Jahre lebte hier mit der «Geistigen Landesverteidigung» ein Vaterlandsverständnis auf, das auch eine Komponente mythischer Überhöhung mit einbegriff, im Kontext seiner Zeit aber nachvollziehbar ist.

Zweifelhafte Glorie

Die Menschheitsgeschichte verzeichnet mit der Sesshaftigkeit auch das Anlegen von Gräbern. In den kultischen Handlungen ergab sich eine Verbindung zwischen Boden und Transzendenz, die mit starker Emotionalität einherging. Das heimatliche Territorium wurde zu einem wichtigen, metaphysisch aufgeladenen Wert. Der Gefühlsaspekt begegnet über die Jahrhunderte immer wieder, so z. B. bei Heinrich Heine (1797–1856). Er schrieb: «Als ich das Vaterland aus den Augen verloren hatte, fand ich es im Herzen wieder.» Und von Heinrich von Kleist (1777– 1811) stammt die Aussage: «O welch herrliches Geschenk des Himmels ist ein schönes Vaterland!» Diese Überhöhung des Vaterland-Begriffs kann dazu führen, dass zivilisatorische Werte zweitrangig werden. Das zeigt sich gut in einer Formulierung des deutschen Theologen und Verlegers Ernst Moritz Arndt (1769–1860): «Wenn die letzten und höchsten Güter von Volk und Vaterland auf dem Spiele stehen, versagen die juristischen Formen und Formeln, die auf Erden gemacht sind; wer zum letzten Kampf fürs Vaterland geht, holt sein Recht vom Himmel.» Man sieht: Da wird heikles Terrain betreten.

Mit diesem Gedankengut geht die Glorifizierung einher. Es kommt zur Beschönigung des Kriegs, z. B. in der «Hurra-Mentalität» des Wilhelminismus. Die Vergangenheit wird romantisiert. Mythische Muster treten an die Stelle der Fakten, es kommt zur Geschichtsklitterung. Vermeintliches oder tatsächlich erfahrenes Unrecht in der Vergangenheit, Gründungsakte, Heldengeschichten und andere Elemente verdichten sich zu einem explosiven Gemisch.
Aber es gab immer wieder Gegenstimmen. So griff der britische Dichter Wilfred Owen, Offizier im Ersten Weltkrieg, das Horaz-Zitat wieder auf. Ende 1917 verfasste er ein Gedicht mit dem Titel «Dulce et decorum est». Dieses beschreibt einen Gasangriff und den dadurch verursachten qualvollen Tod eines Soldaten. Veröffentlicht wurde das Werk erst postum, 1920. Die letzten Zeilen lauten: «Wenn du hören könntest, wie bei jedem Stoss das Blut / Gurgelnd aus seinen schaumgefüllten Lungen läuft, / Ekelerregend wie der Krebs, bitter wie das Wiederkäuen / von Auswurf, unheilbare Wunden auf unschuldigen Zungen, / Mein Freund, du erzähltest nicht mit so großer Lust / Kindern, die nach einem verzweifelten Ruhmesglanz dürsten, / Die alte Lüge: Dulce et decorum est / Pro patria mori.» Doch die Anklage gegen den Krieg hat es nicht leicht. Erich Maria Remarques «Im Westen nichts Neues» (1929) landete auf den Scheiterhaufen der Nationalsozialisten ebenso wie Bruno Vogels Werk, dessen Titel den Widersinn des Kriegs auf makabre Weise wiedergibt: «Es lebe der Tod» (1924).

Patriotismus – Nationalismus – Postmoderne

Der Vaterlandsgedanke wirkt sowohl nach innen wie nach aussen. Beides deckt menschliche Grundbedürfnisse ab. Im Innern kommt es zum Schulterschluss, zur Identifikation, zur Heimat. Man ist unter Gleichgesinnten, mit denen man Herkunft, Boden und Werte teilt. Andrerseits definiert man sich über die Abgrenzung nach aussen. Der – positiv verstandene – Patriotismus lässt sich auf die selbstbewusste, wirtschaftlich und kulturell führende Stadtbürgerschaft zurückführen. Diese sogenannte «republikanische» Tradition hielt an bis zur Entstehung der grossen Nationalstaaten. Venedig und Florenz sind ebenso Beispiele wie Frankfurt, Nürnberg und die Hansestädte. Doch im 19. Jahrhundert kam es zur Überlagerung durch nationalistisches Denken. Der Patriot liebt sein Vaterland; der Nationalist verachtet das Vaterland der andern. Er versteht sich als anderen Nationen überlegen. Nicht selten kommt es zu einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein. Es werden die eigenen Interessen gegenüber jenen von Menschen aus andern Ländern als höherwertig eingestuft – man denke an das NS-Gedankengut des «Lebensraums im Osten» und der slawischjüdischen «Untermenschen».

Wer sich die heutigen Länder Westeuropas vor Augen hält, findet kaum mehr einen sich alles unterordnenden Nationalismus. Gewisse chauvinistische Muster begegnen zwar immer noch, man denke an den Sport oder das Selbstbewusstsein gewisser Länder. Doch es hat sich etwas Wesentliches geändert: Die Menschen schauen selten mehr über den Horizont ihres Individualismus hinaus. Es hat – freilich immer mit Ausnahmen gerade in den älteren Generationen oder in ländlichen Gegenden – ein Paradigmenwechsel stattgefunden. An die Stelle verbindlicher Werte ist das postmoderne «Anything goes»getreten. Statt des Idealismus herrscht das Denken in den Kategorien der «zwei M» vor – «money and me». Die Zeit der sogenannten «grossen Erzählungen » ist vorbei; man will nicht mehr viel vom «Vaterland» hören, ja ist im Gegenteil bestrebt, den Wert als Mythos zu dekonstruieren. Identität kann auch über das Konsumverhalten definiert werden, konkret in der «community» dieser oder jener Marke. Zugehörigkeit vermitteln die social media. Das postheroische Zeitalter ist angebrochen; der Held, der das Vaterland unter Einsatz seines Lebens verteidigt, ist in breiten Kreisen keine Identifikationsfigur mehr.Hier aber eine Klage über den Gang der Welt anstimmen? Die Erfahrung zeigt, dass «alte» Werte durchaus wieder aktuell werden können. Wenn das der Fall sein sollte, dann hoffentlich im Sinn eines engagierten, reflektierten und weltoffenen Patriotismus. Welch grauenvolle Konsequenzen ein übersteigerter Nationalismus haben kann, sollten wir wissen.