Moses Mendelssohn Wegbereiter der Aufklärung

«Der Fremdling aus Dessau»

Zu den bedeutenden Persönlichkeiten, die die Aufklärung im deutschsprachigen Raum prägten, gehört der Philosoph und Seidenfabrikant Moses Mendelssohn, geboren 1729 in Dessau und gestorben 1786 in Berlin.

M. G., Loge In Labore Virtus, Zürich (Schweizer Freimaurer-Rundschau: April 2006)

Philosoph und Seidenfabrikant, das klingt nach grossbürgerlichem Habitus, was jedoch nicht zutrifft, weder für den Start aus bitterster Not, noch für das Ende seines Lebens, als er sich selbst nach glanzvoller Karriere nicht seines bürgerlichen Status sicher sein konnte. Moses stammte aus einer Familie, die arm aber angesehen war. Sein Vater Mendel – daher der von Moses später angenommene Familienname Mendelssohn – hatte in der jüdischen Gemeinde von Dessau eine Funktion inne, die am ehesten jenem eines Gemeindedieners entspricht.

Der kleine Moses war äusserst wissbegierig. Schon bald verschlang er die Werke des Philosophen und Arztes Moses Maimonides aus dem Mittelalter, nicht ahnend, dass man ihn selbst einmal als den 3. Moses bezeichnen würde, nach dem biblischen Moses und nach Maimonides. Der schwächliche Knabe ruinierte seine Gesundheit durch die intensive Lektüre vollends. Sein Sohn Joseph beschrieb ihn später so: «Er war von kleiner Statur, verwachsen in den Schultern, die einen starken Höcker bildeten; er stotterte oft im Sprechen. Im Gegensatz zu dieser misslichen Leibesgestalt war der Kopf sehr schön gebildet, und alle seine Gesichtszüge verkündeten einen hohen Geist und ein herrliches Gemüt.»

Vater Mendel konnte den Wissensdurst des Knaben schon bald nicht mehr stillen, und so nahm sich Rabbi David Fränkel (1704-1762) seiner an. Als der verehrte Lehrer 1743 als Oberlandesrabbiner nach Berlin berufen wurde, folgte ihm der Vierzehnjährige auf dem Fusse, was wörtlich zu nehmen ist. Nach fünftägigem Marsch traf er in Berlin ein. Allerdings nicht auf direktem Weg, denn Juden stand wie dem Vieh nur das Rosenthaler Tor im Osten offen; von dort werden auch die meisten gekommen sein. Dessau liegt jedoch 120 km südwestlich von Berlin, und so musste Moses erstmal um die halbe Stadt herum marschieren, ehe er an die Wache gelangte. Diese wurde im Auftrag der Obrigkeit von Juden gestellt, und die nahmen ihre Aufgabe sehr genau.Wenn in Berlin mal was schief lief, wurden zuerst Juden als Verursacher verdächtigt. Deshalb hatten sie grosses Interesse daran, nur Personen herein zu lassen, von denen man sicher sein konnte, dass sie keinen Argwohn erregen würden.Wer verdächtig war oder den Eintrittszoll nicht bezahlen konnte, wurde im Betteljudenhaus gleich neben dem Rosenthaler Tor einquartiert und in der Regel fort gewiesen. Nach heutigen Begriffen also ein Auffang- oder Durchgangslager. Moses gelang es, ohne weiteres die Kontrolle zu passieren. Das gleicht einem Wunder, wenn man sich den ausgemergelten Knaben in abgerissener Kleidung vorstellt. Auf die Frage, was er in Berlin wolle, antwortete er nur mit dem einen Wort «Lernen». Lernen hatte damals für Juden hohe Priorität. Den Ausschlag dürfte seine spontane aber naive Antwort auf die Frage gegeben haben, wer wohl für sein Auskommen sorgen werde. Da nannte er Rabbi David Fränkel. Die Nennung des Namens des neuen Oberlandesrabbiners tat ihre Wirkung, und Moses wurde in die Stadt eingelassen.

Fränkel war sehr erstaunt, als Moses bei ihm auftauchte.Wahrscheinlich hatte er beim Abschied in Dessau die Hoffnung geäussert, seinen Zögling eines Tages wieder zu sehen, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass Moses diese Floskel wörtlich nehmen würde. Zurückschicken konnte er den Knaben nicht; das hätte dessen sicheren Tod bedeutet. So besorgte er ihm eine Unterkunft in einer Dachkammer des Hauses von Heimann Bamberger. Dort konnte er zweimal in der Woche essen; an Feiertagen sass er an Fränkels Tisch, und Fränkel organisierte auch Freitische für die anderen Wochentage. Trotzdem war der Hunger Moses’ ständiger Begleiter. Präzise teilte er einen Laib Brot so auf, dass er für eine Woche reichte.

Überglücklich war er, als er eines Tages einige Groschen fand, mit denen er sich ein sauberes Hemd kaufen konnte. Mit den alten Klamotten hatte er sich kaum noch auf die Strasse getraut. Dabei hatte er ja noch Glück gehabt, denn Fränkel war im Begriff ein Buch zu veröffentlichen, und da kamen ihm die Schönschreibekünste, über die Moses verfügte, gerade recht.

Fränkel wäre nicht sehr erbaut gewesen, wenn er erfahren hätte, was sein Schützling in seiner spärlichen Freizeit so trieb. Da las Moses nämlich alles, was ihm unter die Augen kam, und eignete sich dadurch eine umfassende Bildung an. Bis anhin hatte Moses nur Bücher in hebräischer Sprache gelesen. Inzwischen beherrschte er auch die deutsche Sprache in Wort und Schrift. Die Lektüre deutscher Bücher war Juden untersagt und hatte die Ausweisung zur Folge – dies nicht etwa eine weitere Schikane der preussischen Obrigkeit, sondern eine Massnahme der jüdischen Gemeinde, um ihre Identität zu wahren. Das «Lernen», das Moses das Rosenthaler Tor geöffnet hatte, bezog sich einzig und allein auf die jüdischen Lehren. Wenn wir uns mit Moses Mendelssohn beschäftigen, reicht es nicht aus, nur sein Wirken zu beleuchten. Die Biografie dieses Mannes gehört untrennbar dazu: das widrige Umfeld, erbärmliche Lebensbedingungen, die Demütigungen durch den Staat, der latente bis offene Antisemitismus in der Öffentlichkeit, die Abschottung und Engstirnigkeit der eigenen Glaubensgenossen – all das hat Moses mit unglaublicher Willenskraft bezwungen, ohne am Ziel irre zu werden und ohne jede Verbitterung. Er hat sich von einem einfachen Motto leiten lassen:

Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun

Es gab wohlhabende Juden, denen waren die Scheuklappen ihrer Gemeindeoberen nicht recht. Ihre Kinder sollten etwas von der Welt lernen. So kam Moses 1750 als Hauslehrer zum Seidenhändler Isaak Bernhard. Inzwischen hatte er sich ausser Deutsch noch Latein, Französisch und Englisch angeeignet. Jahre später lernte er zusammen mit seinem Freund Nicolai noch Griechisch. Auf Englisch konnte er die Schriften von John Locke lesen, die ihn nachhaltig beeinflussten. Die äusseren Lebensumstände wurden angenehmer, und der Hunger war nicht länger ständiger Begleiter.

Moses wagte sich nun unter die Menschen und fand dank seiner Bildung Zugang zur Berliner Kulturelite. Im weitläufigen Bekanntenkreis des Arztes Aron Gumpertz lernte Moses den gleichaltrigen Lessing kennen. Lessing hatte gerade als Zwanzigjähriger ein Theaterstück «Die Juden» geschrieben, in dem er sich für Toleranz gegenüber Juden einsetzte. Er musste sich auch von wohlwollenden Kritikern entgegenhalten lassen, dass er da etwas ganz Abstraktes verfasst hätte, denn in der Wirklichkeit gäbe es den Typ des Juden, den er geschildert hatte, nämlich den gutwilligen und selbstlosen, gar nicht. Nun lernte er Moses kennen und fand sein Ideal bestätigt. Moses wurde zum Vorbild für Lessings Meisterwerk «Nathan der Weise». Zwischen den beiden entwickelte sich eine lebenslange, intensive Freundschaft, obwohl Lessing sich immer nur kurze Zeit in Berlin aufhielt. Der Dritte im Bunde war der Verleger Nicolai, wie Moses ein Autodidakt, ein typischer Berliner von radikal aufklärerischem Zuschnitt, der keinen Streit ausliess und sich mit allen Grössen des Geisteslebens der damaligen Zeit, einschliesslich Goethe, anlegte. Der Schweizer Johann Georg Sulzer (1720-1779), Mathematikprofessor, Philosoph und Mitglied der Berliner Akademie beschrieb Moses in diesem Kontext so: «Der Jude, Lessings Freund, heisst Moses, ein seltenes Genie, der aber mit anderen Leuten als mit Lessing und Nicolai umgehen sollte».

Ermuntert durch Lessing, begann Moses zu schreiben, und zwar sowohl auf Deutsch wie auf Hebräisch. Es war ein Erfolgserlebnis für ihn, dass Lessing seine ersten Schriften ohne sein Wissen veröffentlichen liess. Dadurch beflügelt wurde er ein fleissiger Artikelschreiber in der Zeitschrift «Der Chamäleon», die der Professor am Gymnasium zum Grauen Kloster Johann Georg Müchler herausgab. Weniger erfolgreich gestaltete sich Moses’ Versuch, eine Zeitschrift auf Hebräisch herauszubringen. Nach der zweiten Nummer kam bereits das Aus, weil die jüdische Druckerei sich weigerte, weiterhin seine Zeitschrift zu drucken.

Das «Gelehrte Kaffeehaus»

Müchler war übrigens der Initiator des «Gelehrten Kaffeehauses» in Berlin. Schon der Name war Provokation, denn Kaffee war damals etwas ganz Neues, Anregendes, geradezu Aufrührerisches, das der König mit hohen Steuern belegte. Das «Gelehrte Kaffeehaus» hatte 100 Mitglieder, die alle an Fortschritt und Wissenschaft interessiert waren. Eine gemischte Gesellschaft, die sich wöchentlich zu Gedankenaustausch und Billardspiel traf und zu der sich nicht nur Mendelssohn gesellte, sondern auch Offiziere des Grenadierbataillons aus Treuenbrietzen, um einmal die Bandbreite dieser Vereinigung aufzuzeigen.

Bis 1754 dauerte diese unbeschwerte Zeit, dann waren Bernhards Kinder flügge. Moses konnte sich keine Vakanz leisten. Nach dem neuen Generalreglement für Juden, das Friedrich II. 1750 erlassen hatte, fiel er ohne feste Anstellung aus dem Raster heraus, das in einer Abstufung von sechs Kategorien die Existenz von Juden in der Gesellschaft festlegte. Bernhard, der zur bevorzugten Gattung der Schutzjuden gehörte, konnte nun immerhin aufgrund der neuen Bestimmungen seinen Seidenhandel durch eine Fabrik erweitern. Für Moses, der sich am unteren Ende der Skala bewegte, hätte es böse ausgehen können.

Was sich der König da ausgeheckt hatte, entsprach so gar nicht seinem Bekenntnis, dass in seinem Staat jeder nach seiner Fasson selig werden könne, sondern war nach reinen Nützlichkeitserwägungen gestaltet ohne jede humanitäre Komponente. Staatsrechtlich wurde die jüdische Gemeinschaft nicht als Stand oder Religion anerkannt, sondern als eigenständige «Nation», als Staat im Staate, wie sie sich ja auch selbst sah, so dass eine Integration nur in den vorgesehenen Ausnahmefällen möglich sein sollte. Mirabeau hat später einmal festgestellt, die Judengesetzgebung in Preussen sei mittelalterlich orientiert und eines Kannibalen würdig. Friedrich, der auf alles hörte, was aus Frankreich kam, wird über dieses harsche Urteil wenig erfreut gewesen sein. Seinen Beinamen «der Grosse», hatte er sich mit diesem Gesetzeswerk bestimmt nicht verdient, und den Idealen der Freimaurerei, der er ja angehörte, entsprach dieses Verhalten erst recht nicht!

Wieder winkte Moses das Glück des Tüchtigen. Bernhard stellte ihn als Buchhalter in sein expandierendes Unternehmen ein. Wie von Moses nicht anders zu erwarten, kniete er sich in die Arbeit, um auch auf diesem für ihn fremden Gebiet zum Besten zu werden; 1755 arbeitete er regelmässig im Kontor von früh um 8 bis abends um 9 Uhr. Nach der Einarbeitungszeit konnte er sich auch wieder seinen schöngeistigen Interessen zuwenden, und alles ging parallel vonstatten. Moses erledigte seine Aufgaben so gut, dass ihn Bernhard 1761 zum Geschäftsführer und kaufmännischen Direktor ernannte. Moses wurde zum Prototyp des ehrbaren Kaufmanns. 1761 war noch aus einem wichtigeren Grund als dem Karrieresprung bei Bernhard ein besonderes Jahr für Moses. Er unternahm seine erste Reise. Sie führte ihn nach Hamburg, wo bei er bei seinem Mentor Aron Gumpertz Fromet Gugenheim kennen lernte, eine blonde, blauäugige Schönheit, die seine Zuneigung erwiderte. Um zu heiraten, musste Moses bei den Behörden eine Bewilligung einholen. Hierzu sei ein Detail erwähnt, das die ganze Absurdität der damaligen Verhältnisse illustriert. Zur «Industriepolitik» Friedrich II. gehörte auch der Betrieb einer Porzellanmanufaktur, die jedoch nicht rentierte. Jede Heiratsbewilligung für Juden wurde an die Auflage geknüpft, für 300 Taler bestimmte Gegenstände aus der Produktion zu erwerben. Im Falle des Brautpaars Mendelssohn/Gugenheim handelte es sich boshafter Weise um 20 Porzellanaffen, die völlig unbrauchbar und unverkäuflich waren. Aber was sind solche Schikanen gegen eine glückliche Verbindung, und in der Tat führten Moses und Fromet 24 Jahre bis zu Moses’ Tod eine harmonische Ehe, die zur Basis einer glanzvollen Familiendynastie wurde.

Aufklärung

Das Thema, das die geistige Welt im 18. Jahrhundert in Europa am meisten beschäftigte, war die Aufklärung. «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit», formulierte Kant messerscharf. In England und Frankreich war die Aufklärung eher gesellschaftspolitisch orientiert, im deutschsprachigen Raum war sie moralisch und erzieherisch geprägt. Unter dem Dach der deutschen Aufklärung konnten sich deshalb die unterschiedlichsten Konzepte entwickeln, mit wechselnden Fronten übrigens. Friedrich der Grosse war so auf die französischen Aufklärer fixiert, dass er von Kant keine Notiz nahm, wohl aber von Mendelssohn. Der hatte Friedrich kritisiert, weil er die Unsterblichkeit der Seele verneinte. Der König wollte es genau wissen und liess sich Mendelssohns Ausführungen ins Französische übersetzen.

Dass die Seele unsterblich sei, stand für Mendelssohn ausser Frage. Er widmete diesem Anliegen das Buch «Phädon oder die Unsterblichkeit der Seele», das 1767 erschien. Es entstand in Anlehnung an Platon und wurde ein Bestseller. Damit traf Mendelssohn exakt den Zeitgeist und setzte einen Kontrapunkt zum «alles zermalmenden Kant», wie er sich ausdrückte. Kant lobte Moses für seine Sprache: «Es sei nicht jedermann gegeben, … so gründlich und so elegant (zu schreiben) wie Moses Mendelssohn». Im Lehrgebäude der Freimaurerei spielt die Unsterblichkeit der Seele auch heute noch eine Rolle, Wissenschaft und Philosophie haben sich bald davon weg entwickelt, so dass der «Phädon» trotz des fulminanten Erfolgs später in Vergessenheit geriet.

Mit seiner geschliffenen deutschen Sprache erreichte Moses Mendelssohn jedoch nur eine kleine Elite. Schätzungen zufolge konnten in Mitteleuropa um 1770 nur 15 Prozent der Erwachsenen lesen. Die Aufklärung war ein Projekt der gebildeten Stände. Friedrich II., der sich als erster Diener seines Staates verstand, sprach der grossen Masse Vernunft und Einsicht ab und befand sich mit dieser Meinung in Übereinstimmung mit der philosophischen Klasse. Nur eine Minderheit um Mendelssohn, Nicolai und Dohm wollte das Volk aus der Unmündigkeit heraus führen, ohne jedoch an der bestehenden Gesellschaftsordnung zu rütteln.

Im «Berliner Klima» entwickelte sich so zwar kein revolutionärer Nährboden, wohl aber eine Subkultur. Der Hof war in Potsdam, und dort ging es französisch zu. Nur die Akademie befand sich in Berlin und war unter der Kontrolle von französischen Günstlingen des Königs. Zweimal wollte die Akademie Mendelssohn aufnehmen, beide Male verweigerte der König die Zustimmung ausdrücklich. Mit Mendelssohns deutscher Aufklärung hatte er nichts am Hut. Berlin und alles, was dort getrieben wurde, war ihm suspekt, aber er liess die Berliner Aufklärer gewähren. Während der Zensor meist auf Antrag der evangelischen Geistlichkeit wütete, blieb die Kritik an den Ideen des Herrschers in der Regel ohne schmerzhafte Sanktionen.

In diesem Zusammenhang wird gerne eine Anekdote zum Besten gegeben: Friedrich II. hatte den kursächsischen Staatsminister von Fritsch, den er als Gesprächspartner schätzte, im September 1771 nach Potsdam eingeladen. Herr von Fritsch hatte es eilig, weil er vorhatte, auf der Rückreise noch einen Halt in Berlin einzulegen. Dort wollte er Moses Mendelssohn, von dem er viel gehört hatte, persönlich kennen lernen. Der König hielt nichts von dieser Idee. Kurzerhand beorderte Friedrich «den berühmten Herrn Moses Mendelssohn», wie es in der «Einladung» hiess, für den nächsten Tag nach Potsdam. Obwohl jüdischer Feiertag, machte sich Moses auf den Weg, traf den Staatsminister im Schloss, aber der Schlossherr liess sich nicht blicken. Um diese Begebenheit ranken sich idealisierende Wunschvorstellungen, die alle darauf hinauslaufen, dass sich Friedrich II. und Moses begegnet seien, was dann die ausserordentlich toleranten Verhältnisse in Preussen bewiesen hätte. Leider war dem nicht so!

Nur in einem – wenn auch existenziellem – Fall kam Friedrich II. Moses Mendelssohn entgegen. Er verlieh ihm 1763 den Schutzbrief, aber nur für seine Person, nicht für seine Familie, und auch erst im zweiten Anlauf, nachdem sich der Marquis d’Argens, ein Höfling des Königs, energisch für ihn verwendet hatte. Moses kommentierte diesen Vorgang so: «Es tut mir weh, dass ich um das Recht der Existenz erst bitten soll, welches das Recht eines jeden Menschen ist, der als ruhiger Bürger lebt». Und weiter: «Wenn aber der Staat überwiegend Gründe hat, Leute von meiner Nation nur in gewisser Zahl aufzunehmen, welches Vorrecht kann ich vor meinen übrigen Mitbrüdern haben, eine Ausnahme zu verlangen? » Erst Friedrichs viel geschmähter Nachfolger Friedrich Wilhelm II., ein Rosenkreuzer, erweiterte 1787 den Schutz auf die Familie. Zu diesem Zeitpunkt war Moses bereits tot.

Johann Caspar Lavater gab den Anstoss zur geistigen Wende

Der geistige Wendepunkt im Leben von Moses Mendelssohn wurde nicht aus dem preussischen Umfeld heraus initialisiert, sondern der Anstoss kam aus Zürich von Johann Caspar Lavater (1741-1801). Lavater war Theologe, aber vor allem war er als Physiognom berühmt. Er behauptete, dass sich der Charakter eines Menschen an seinen Gesichtszügen ablesen lasse. Das war damals eine populäre Auffassung, und sie ist uns schon am Anfang dieses Aufsatzes begegnet in der Art, wie Joseph Mendelssohn seinen Vaters beschrieben hat.

Der junge Lavater hatte Moses 1763 auf einer Bildungsreise durch Deutschland in Berlin kennen gelernt. Sechs Jahre später übersetzte er mehr schlecht als recht Auszüge aus einem Buch des Genfer Professors Bonnet. Der ungestüme Lavater verfasste ein Vorwort und liess das Pamphlet unter dem Titel drucken: «Untersuchung der Beweise für das Christentum gegen Ungläubige.» Das Vorwort war Mendelssohn gewidmet und erhielt die Aufforderung, dieser möge entweder die «Beweise» entkräften oder dem Christentum beitreten.

Diese Aufforderung brachte Mendelssohn in eine äusserst missliche Lage. Es war sehr heikel, sich zur christlichen Religion öffentlich zu äussern, für einen Juden erst recht. Schon einmal war Moses denunziert worden und musste sich beim Generalfiskal rechtfertigen. Angeblich hatte er einen Hofprediger kritisiert. Ausgerechnet der Zensor selbst hatte ihn damals vor Schlimmerem bewahrt. Ausserdem widerstrebte es Mendelssohn, öffentlich Fragen der Religion zu diskutieren. Für ihn war der Glauben etwas Privates und Persönliches. In seinen Beiträgen zur Aufklärung hatte deshalb bis dahin seine Zugehörigkeit zum Judentum keine Rolle gespielt. Nun wurde er gedrängt, das Thema aufzugreifen, und Moses machte sich widerstrebend ans Werk, denn die Berliner Aufklärer waren empört über Lavater und erwarteten eine Replik. Aus leidvoller Erfahrung vorsichtig geworden, sicherte sich Moses zunächst beim Konsistorium ab. Von dieser obersten kirchlichen Instanz in Preussen erhielt er grünes Licht. Einerseits zeigt das, wie gross Mendelssohns Reputation mittlerweile war, anderseits war der Zusatz «er werde wohl nichts schreiben, das öffentlich Ärgernis geben könnte», auch ein deutliches Signal.

Moses hatte schon verstanden! «Er fühle sich als Mitglied eines unterdrückten Volkes in einem christlichen Land nicht in der Lage, Einwände gegen die christliche Religion gleichberechtigt zu äussern». Mit diesem klaren Statement in seinem Antwortschreiben hatte er einen Weg gefunden, um sich nicht auf theologisches Glatteis begeben zu müssen. Bonnets angeblichen Beweise konnte er mit dem Hinweis abtun, dass man mit dieser Methode jede Religion «beweisen» könne.

Moses benutzte die Gelegenheit, um auf zwei Wesenszüge des Judentums hinzuweisen, nämlich auf Toleranz und das Fehlen missionarischer Aktivitäten. Er bekannte sich zu seiner Glaubensgemeinschaft und stellte klar, dass er nicht die Absicht habe, sie aufzugeben.

Damit hätte die Affäre beendet sein können. Es gab noch einige Gesichts wahrende Rückzugsgefechte des düpierten Lavater, die mit dem entnervten Ausruf «Wollte Gott, dass Sie ein Christ wären», auf den Mendelssohn gar nicht mehr reagierte, ihren Abschluss fanden. Der Stein, den Lavater angestossen hatte, blieb jedoch im Rollen, das Thema verselbständigte sich von seinen Protagonisten und beherrschte die öffentliche Diskussion noch weitere gut hundert Jahre. Heinrich Heine befand kritisch, die Taufe sei das «Entréebillet zur europäischen Kultur».

Lavater spielte übrigens später noch einmal eine Rolle, diesmal war es Moses, der sich an ihn wandte. Verzweifelte Juden in der Schweiz hatten Moses gebeten, sich für sie zu verwenden. Die Wohnberechtigung für Juden war in der Schweiz auf die Dörfer Endingen und Lengnau beschränkt, von Niederlassungsfreiheit selbst im rudimentären Sinn wie in Preussen also keine Spur. Nun wollten die Behörden den Juden noch die Fortpflanzung verbieten. Dank Lavaters Intervention, das sei zu seiner Ehrenrettung gesagt, unterblieb dieses absurde Unterfangen.

Mendelssohns ohnehin labiler Gesundheitszustand hatte sich durch die Auseinandersetzung mit Lavater verschlechtert. Ausserdem hatte ihn die brüske Ablehnung des Königs, ihn in die Akademie zu berufen, tief verletzt. Als Mitglied der Akademie hätte er sich ohne materielle Sorgen seinen philosophischen Studien widmen können. Derselbe König, der ihn als Philosoph missachtete, förderte seine geschäftlichen Aktivitäten, bot Geld für Investitionen an, mit denen er zum Konkurrenten seines Arbeitgebers Bernhard geworden wäre. Das wollte Moses nicht und lehnte ab. Als die Bernhards gestorben waren, konnte er die Firma als Teilhaber mit den Erben weiterführen und baute sie aus. Die Verantwortung für das Geschäft lastete schwer auf ihm. Das alles war zu viel, und Moses erkrankte an einem Nervenleiden. Die Ärzte verordneten strikte Ruhe, zu der sich Moses zwingen musste. Sein Freund Nicolai nannte es «philosophische Entäusserung». Heute würde man wohl von einem «Burn-out-Syndrom» sprechen.

Die Beschäftigung mit dem Judentum

Nach dieser schwierigen Phase wandte sich Mendelssohn dem Thema zu, das Lavaters plumpe Bekehrungsversuche bei ihm ausgelöst hatte: die Beschäftigung mit dem Judentum. Inzwischen war er auch in seiner Gemeinde ein geachteter Mann. Schon in seinem Brief an Lavater hatte er geschrieben: «Ich werde es nicht leugnen, dass ich bei meiner Religion menschliche Zusätze und Missbräuche wahrgenommen, die leider! ihren Glanz nur zu sehr verdunkeln». Hier setzte er an. Er wollte seine Glaubensgemeinschaft aus der mentalen Erstarrung herausführen, in die sie durch die lange Isolation gelangt war. Diese galt es zu durchbrechen. So wurde er zum jüdischen Aufklärer mit demselben Rüstzeug, das er sich als deutscher Aufklärer angeeignet hatte. Ein weitere Passage im Brief an Lavater belegt diese Einstellung: «Ich bleibe bei meinem jüdischen Unglauben, der mir gestattet, bis an die äusserste Grenze der Vernunft zu prüfen und zu denken, bei meiner Freiheit, die zwischen mir und meinem Schöpfer keinen Richter, keinen Vermittler duldet, die mich mit meinem Gott alles allein abmachen lässt und keinem Dritten erlaubt, sich einzumischen».

Von da an entwickelte Mendelssohn vielfältige Aktivitäten. 1779 erschien seine Bibelübersetzung. Da viele Juden die deutsche bzw. lateinische Schrift nicht lesen konnten, wurde die deutsche Sprache in hebräischen Lettern gedruckt. Die Bibelübersetzung, die er auf eigenes Risiko veröffentlichte, fand weite Verbreitung und Aufmerksamkeit.

Ein weiteres Projekt, das er mit Nachdruck verfolgte, war die Gründung einer allgemein bildenden Schule, wo jüdische Schüler in deutscher und hebräischer Sprache unterrichtet werden sollten. Wohlhabende Juden unterstützten das Vorhaben, so dass 1781 die Jüdische Freischule in Berlin eröffnet werden konnte. Der Name rührt daher, dass der Besuch der Schule kostenlos war und nur für Kinder begüterter Eltern ein Schulgeld zu entrichten war. Die Bedeutung dieser Schule muss umso höher eingeschätzt werden, als sich das allgemeine Schulwesen im Land erst im Anfangsstadium befand.

Für den Schulunterricht gab es ein Lesebuch in deutscher Sprache und in deutschen Lettern, an dem Moses massgeblich mitgewirkt hatte. Neben Rechtschreiberegeln enthielt es Texte, die sowohl der deutschen wie der jüdischen Kultur entnommen waren.

Das Interesse an der Freimaurerei

1781 starb Lessing. Der Tod des Freundes traf Moses schwer. Selten war die Harmonie zwischen den beiden getrübt, obwohl sie nicht immer einer Meinung waren. Jedoch kam es einmal zu einer Verstimmung, als Moses Lessing nach der Freimaurerei fragte und keine Antwort erhielt. Nach all dem, was wir von Moses Mendelssohn gehört haben, wundert uns seine Frage nach der Maurerei nicht.Weshalb Lessing ihm die Antwort schuldig blieb, wissen wir nicht. Vielleicht hat Moses auch seinen Freund Nicolai gefragt. Nicolai war Mitglied der Loge zu den«3 Weltkugeln» in Berlin. Für eine kurze Zeit war die Freimaurerei damals vom Virus der «Strikten Observanz» befallen. Nicolai kritisierte diesen Irrweg mit den damit verbundenen «Ritterspielen» scharf. Darin befand er sich in guter Gesellschaft mit Friedrich II. Als der Spuk vorüber war und der Bund zu seinen alten, aufklärerischen Idealen zurückfand, blieb bei den preussischen Grosslogen verhängnisvoller Weise das Bekenntnis zum Christentum als Voraussetzung zum Beitritt bestehen, so dass Juden die Aufnahme bis in die jüngste Vergangenheit verweigert wurde. Die Freimaurerei war im Preussen der Aufklärung in zwei Richtungen aktiv. «Die Freimaurerei, seit Mitte des Jahrhunderts innerlich gespalten, gab das Vorbild für eine Reihe paramaurerischer Geheimgesellschaften ab, die sich rechts und links von ihr etablierten. Rechts waren es die Rosenkreuzer, ein gegen die Aufklärung kämpfender Mysterienbund, links die Illuminaten» (Ingrid Mittenzwei). Nicolai hatte mit den Illuminaten sympathisiert, bis er ihren inneren Widerspruch erkannte. Moses Mendelssohn hätte wohl in der Freimaurerei, so wie sie sich damals in Preussen präsentierte, trotz weitgehender Übereinstimmung bei den Idealen keine adäquate geistige Heimat gefunden.

Am letzten Tag des Jahres 1785 wollte Moses noch schnell ein Manuskript zum Drucker bringen. Es handelte sich um eine Verteidigungsschrift für Lessing. Um den Sabbat zu respektieren, verliess er das Haus erst nach Einbruch der Dunkelheit. Er hatte es eilig und sich deshalb nicht ausreichend gegen die Witterung geschützt. So handelte er sich eine Erkältung ein. Diese Attacke überstand der geschwächte Körper nicht, und Moses Mendelssohn starb am 4. Januar 1786.