Mitgliederzahlen: Die Sicht des Grossmeisters

«Neue Brüder – wo sind sie?» Diese Frage stellt sich mancher Loge. Doch so unterschiedlich die Bauhütten, so unterschiedlich die Perspektiven. Der Grossmeister der Schweizerischen Grossloge Alpina, Br. J.-M. M., erklärt in einem Interview seine Sicht. Von alarmierenden Zuständen könne für die SGLA insgesamt keine Rede sein. Doch gerade kleinere Logen sollten ihre Strategien überdenken. Das Thema Nachwuchs müsse in grösseren Zusammenhängen gesehen werden, will man es begreifen und angehen.

T. M.

T. M.: S.  erw.  Grossmeister, lieber Br.  J.-M., dein Amt bringt mit sich, dass du gerade durch persönliche Besuche einen Überblick über die Schweizer Logen hast. Hinzu kommen alle die Kontakte zu den Grossmeistern anderer Länder. Es ist also von grossem Interesse, wie du die Umfrage von der strategischen Warte aus interpretierst. Erlaube mir die Frage gleich vorweg: Sind unsere Bestände alarmierend?

J.-M. M.: Das trifft für das Gesamt der Schweizer Logen nicht zu. Ein Alarm wäre fehl am Platz. Aber es besteht gerade bei kleineren Logen Handlungsbedarf. Deren Selbständigkeit darf allerdings nicht angetastet werden. Unser Logensystem ist typisch schweizerisch, es lebt vom Gedanken des Föderalismus. Die einzelnen Logen haben sich im Sinn einer Willenskundgebung zu einer Allianz zusammengeschlossen, welche die Individualität ihrer Mitglieder widerspiegelt, ja auf ihr beruht.

T. M.: Und wie sieht es im internationalen Vergleich aus?

J.-M. M.: Betrachtet man die Logen in den vergleichbaren Ländern, so sind die Bestände stabil. Man darf sich allerdings nicht an den absoluten Zahlen orientieren. Vielmehr müssen die Bestände in Relation zur Bevölkerungsziffer gesehen werden. Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt, dass die Schweizer Grossloge den Vergleich mit den umliegenden Ländern, aber auch mit dem UK, nicht zu scheuen braucht. Mit 3’500 in der SGLA organisierten Brüdern stehen wir gut da. Die Zahlen haben sich in den letzten zehn Jahren immer um diesen Wert herum bewegt. Es könnten freilich gern auch 4’000 sein. Doch Wachstum in Ehren: Mehr als 8’000 Brüder wären schlicht zu viele. Ein Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass sich rund 500 Brüder im Grand Orient der Schweiz organisiert haben. In ihren Augen sind die Bauhütten der SGLA zu spirituell ausgerichtet; sie bevorzugen einen agnostischen Denkansatz.

T. M.: Ich würde gern auf die Aspekte der Rekrutierung zu sprechen kommen. Wie beurteilst du die Altersdurchmischung?

J.-M. M.: Erlaube mir eine Bemerkung zum Wort «Rekrutierung ». Im französischen Sprachraum klingt das sehr nach Zwang, und das trifft so ja nicht zu – im Gegenteil. Was die Altersdurchmischung betrifft, müssen wir einen Faktor berücksichtigen, den wir kaum beeinflussen können. Im Alter zwischen zwanzig und 35, 40 sind die Männer voll engagiert, im Berufsleben und in der Familie. Sie hätten nicht den freien Kopf, sich in die Freimaurerei einzubringen. Ab 40, 45 sieht das dann anders aus. Man darf den Fokus also nicht einfach auf die jungen Männer legen, wenn man die Frage nach dem Nachwuchs stellt.

T. M.: Und wie beurteilst du die Logengrössen?

J.-M. M.: Ursprünglich setzte man für Logengründungen das Minimum an Brüdern bei sieben an. Die Verfassung der SGLA indessen schreibt im Artikel 6.1 vor, dass eine Loge mindestens 14 Brüder zählen muss. Dahinter steht die Absicht, keine zu kleinen Logen zu haben. Es gibt welche, die schlichtweg zu klein sind, um überhaupt gewisse statutarische Vorschriften einzuhalten. So können es Unterbestände mit sich bringen, dass für eine Erhebung das Soll von sieben Meistern nicht erbracht werden kann. Dann muss man sich etwas einfallen lassen, z. B. den Einbezug von Gästen. Hinzu kommt der finanzielle Aspekt. Kleine Logen haben hier häufig Schwierigkeiten. Eine Fusion läge in vielen Fällen nahe, aber die kann ihnen niemand vorschreiben. Die grossen Logen wiederum haben in der Regel solide Finanzen. Doch eigentlich wäre es ihre Aufgabe, von sich aus neue Logen zu gründen. Dem wird nicht immer nachgekommen, obgleich das eine gute Sache wäre. Beide Grössenordnungen haben Vor- und Nachteile. In einer kleinen Loge ist man enger mit den Mitbrüdern verbunden, kann aber niemandem ausweichen, wenn es zu Konflikten kommt. In einer grösseren besteht die Gefahr, dass sich Untergruppen bilden; dafür kann man sich eher aus dem Weg gehen.

T. M.: Die Frage nach dem Nachwuchs berührt ja mehrere Aspekte. Ich würde gern von dir erfahren, welche in deinen Augen massgeblich sind.

J.-M. M.: Ganz wichtig ist der Grundsatz, der auch klar aus der Umfrage hervorgeht: Qualität vor Quantität. Vielleicht klingt das elitär, wenn ich sage: Nicht jeder kann Freimaurer werden. Das hat aber mit Arroganz nichts zu tun. Vielmehr muss man sich jenen zuwenden, die aufgrund ihre Persönlichkeit für den maurerischen Weg in Frage kommen. Auch gilt es zu fragen: Passt ein Kandidat mehr in diese oder mehr in jene Loge?

T. M.: Und wenn jemand nicht das Erwartete antrifft, nachdem er sich einer Loge angeschlossen hat? Die Umfrage zeigt ja, dass das ein Thema ist.

J.-M. M.: Dann müssen sich die Vorbereiter den Vorwurf gefallen lassen, ihre Aufgabe nicht wahrgenommen zu haben. Dazu gehörte auch die Überprüfung, was ein Kandidat der Loge zu bieten hat. Es geht ja um ein Geben und Nehmen. In diesem Zusammenhang ist eine Funktion sehr wichtig: die des Paten. Dieser streut in Gesellschaft möglicher Kandidaten die eine oder andere Frage oder Bemerkung und stellt dann fest, ob Männer mit maurerischem Potential zugegen sind. Er erwähnt die Freimaurerei nicht von Beginn weg, sondern erst im Lauf der Zeit. Ich verwende hier gern das Bild, dass jemand Fischen nach und nach Futter gibt und schaut, welche dabeibleiben. Vom Unverbindlichen geht es so nach und nach zum Verbindlichen, vom Profanen zum Maurerischen. In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals die Bedeutung des Individuums ansprechen. Die Freimaurerei lebt davon, dass jeder einzelne Bruder in seinem Umfeld Gutes tut. Es ist meine feste Überzeugung, dass der Einzelne die Gesellschaft besser machen soll, und ich lehne die Denkart entschieden ab, dass die Gesellschaftbessere Menschen zu machen hat. Der Mensch verändert die Gesellschaft und nicht umgekehrt.

T. M.: Gibt es auch externe Gründe, weshalb sich die einzelnen Logen stark unterscheiden können?

J.-M. M.: Ja. Einer ist der Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Verhältnissen. In der Grossstadt leben tendenziell mehr Leute aus intellektuellen und finanziell erfolgreichen Kreisen. Zudem geht es hier mehr oder minder anonym zu und her. Nimmt man aber einen Schreinermeister aus einem Dorf, so könnte dessen Mitgliedschaft in einer Loge zu erheblichen Problemen führen – bis zur Bedrohung seiner wirtschaftlichen Existenz. Konkret: Zwischen Genf und Islikon liegen Welten.

T. M.: Ein Punkt, der in der Umfrage deutlich zu Tage tritt, besteht in der Öffnung der Freimaurerei nach aussen. Wie beurteilst du ihn?

J.-M. M.: Auf jeden Fall ist die Öffnung nach aussen unumgänglich. Das heisst freilich nicht, dass man mit «hard-selling»-Methoden Nachwuchsleute anwirbt. Es soll aber der profanen Welt gezeigt werden, dass die Freimaurerei ein Weg der Selbstveredelung ist. Das ist ein Argument, das auch heute greift. Was die Kanäle betrifft, über welche die Logen mit Erfolg aktiv werden, stehen gemäss der Umfrage das Internet, die Empfehlung durch einen Bruder und, wenn man das so nennen will, Public Relations in unterschiedlicher Form zuvorderst. Dass das Internet als vergleichsweise junges Medium für uns derart wichtig geworden ist, zeigt, dass wir mit der Zeit gehen.

T. M.: Inwiefern passt die Freimaurerei in unsere Zeit?

J.-M. M.: Viele Menschen haben heute das Vertrauen in die traditionellen Kirchen verloren. Das heisst aber nicht, dass ihnen Transzendenz an sich gleichgültig ist. Im Gegenteil: Viele Menschen sind auf der Suche. Die Freimaurerei gibt ihre spezifischen Antworten auf entsprechende Fragen, allerdings ohne für sich den Begriff der Religion zu reklamieren. In der Brüderlichkeit, der «fraternité », setzt sie ihr Gedankengut um.

T. M.: In der Umfrage geht es auch darum, welche Rolle die Grossloge übernehmen soll. Die einen Stuhlmeister äussern sich zufrieden mit dem heutigen Zustand: Die „Alpina“ soll sich nicht in das Leben der einzelnen Logen einmischen. Die andern wünschen indessen eine vermehrte Kommunikation von seiten der Grossloge. – Wie siehst du das?

J.-M. M.: Ich denke, dass je nach dem die eine oder die andere Seite unglücklich ist. Die Grossloge soll auf dem heutigen Kurs weitermachen. Es kommen immer wieder Brüder auf mich zu mit der Frage, ob man nicht auf der Stufe der Grossloge zu gewissen Themen Stellung beziehen soll, z. B. zu Vorgängen in der Türkei oder zu den antisemitischen Äusserungen des französischen Komikers Dieudonné. Ich lehne das ab, nicht zuletzt deshalb, weil grosse Gesten nicht unserer Schweizer Art entsprechen.

T.M.: Eine letzte Frage. Wie siehst du die Zukunft unserer Logen? Chancen, Risiken?

J.-M. M.: Risiken sehe ich keine, wir sind auf gutem Weg. Die SGLA verpflichtet sich der Regularität, die auf den Landmarken in Andersons Alten Pflichten beruht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich jeder Bruder als Botschafter der Freimaurerei versteht und gegenüber der profanen Welt als Vorbild auftritt.

T. M.: S. erw. Grossmeister, lieber Br. J.-M., ich danke dir für das Gespräch.