Ist Spiritualität noch zeitgemäss?

…wenn das Herz versteht, dann sieht man wahrhaftig… (Rav Moshe Chaim Luzzato)

Spiritualität – das Verlangen nach etwas Universellem, Geistigem – ist notwendiger denn je. Unsere materiell orientierte Gesellschaft hat die spirituellen Wurzeln verloren. Spiritualität ist etwas Übergeordnetes, ein integrales Ganzes, das nach präzisen und sinnvollen Gesetzen existiert und funktioniert. Aber ist die Spiritualität wirklich noch zeitgemäss?

H. E. F. – St. Johann am Rhein, Schaffhausen (Schweizer Freimaurer-Rundschau: März 2010)

Ich könnte die Frage mit einem vorschnellen und klaren JA beantworten. Dies ist wohl nicht die Meinung, wichtiger ist die Argumentation. Ich bin fest überzeugt, dass Spiritualität – das Verlangen nach etwas Universellem, Geistigem – notwendiger ist denn je. Unsere materiell orientierte Gesellschaft hat die spirituellen Wurzeln verloren. Viele Menschen sehen keinen Sinn mehr in ihrer Arbeit und im Leben. Dies erst recht nachdem die Finanzwirtschaft die Realwirtschaft in eine tiefgreifende Krise gestürzt hat. Unsere Gesellschaft braucht eine Bewusstseinsveränderung und unsere Wirtschaft braucht einen neuen Geist. Wir müssen wieder vermehrt Werte thematisieren, die sich lohnen weiterentwickelt zu werden wie Respekt, Anstand, Bescheidenheit, Demut, Toleranz, Solidarität und Spiritualität. Spiritualität, vereinfacht als unser Verhältnis zur geistigen Welt bezeichnet, verleiht uns Optimismus und Hoffnung. Es lohnt sich, im Materiellen das verborgene Geistige, das Unsichtbare zu entdecken! Um was geht es bei der Spiritualität? Versuch einer praktischen Umschreibung. Beim Begriff der Spiritualität geht es um unser Verhältnis zur immateriellen, geistigen (= nicht inkarnierten) Welt wie beispielsweise Gott, Engel und Seelen, die dennoch erfahroder erahnbar ist (Einsicht, Erkennen) und die der Lebensgestaltung eine Orientierung gibt. Spiritualität ist dabei sehr umfassend zu verstehen. Spiritualität ist aber abzugrenzen von Glaube und Religion. Religiosität schränkt zu sehr ein und weil Religionen dogmatisch sind bzw. sein können, passen sie sowieso nicht zur maurerischen „Philosophie“. Beim Glauben handelt es sichumdie persönliche Ausdrucksweise einzelner Menschen innerhalb der Religiosität. Spiritualität bedeutet zudem die bewusste Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen des Daseins, der Welt und der Menschen untereinander. Eine pragmatische, im Alltag gelebte Spiritualität entspricht meines Erachtens ideal dem maurerischen Gedankengebäude, um die in den Ritualen verinnerlichten Werte im profanen Leben aktiv umzusetzen. Spiritualität heisst, sich auf der geistigen Ebene zu befinden. Sich abheben vom Materiellen und Dogmatischen. Wenn man sich auf der Ebene des Geistes befindet, ist man erhaben über das Materielle. Dogmatische Abgrenzungen machen keinen Sinn mehr. Man befindet sich beim Wesentlichen, auf einer etwas höheren Bewusstseinsstufe des Menschen, die auf der Ebene der Seele entfaltet werden kann, wodurch man fähig wird, den göttlichen Plan des Allmächtigen Baumeisters aller Welten (A.B.a.W.) zu verstehen. Unterschiedliche Auslegungen von der Bibel, dem Koran und der Thora beispielsweise machen keinen Sinn mehr. Auf der Ebene des Geistes findet man erstmals das Gemeinsame, das Universelle. Da unsere Sprache für unsere Wahrnehmung der Welt limitiert ist, fehlen uns die Worte um spirituelle Konzepte auszudrücken. Dies ist umso schwieriger, wenn man Spiritualität noch nie richtig gefühlt hat. Daher vergleiche ich – quasi als visuellen Ersatz – den gemeinsamen geistigen und übergeordneten Nenner der Spiritualität mit einer Form oder besser kosmischen Gesetzmässigkeit, die sich vom Mikrokosmos über den Mesokosmos (=mittlerer Bereich) bis in den Makrokosmos jederzeit und überall findet: die Spirale, ein Symbol des Lebens (siehe Abbildungen).

Spiritualität im Alltag

Grundsätzliche Fragen nach der Bedeutung und dem Sinn unseres Lebens, der Philosophie und der Spiritualität haben die Menschen schon immer interessiert. Spätestens bei Geburten und bei Todesfällen wird jeder von uns mit solchen Fragen konfrontiert. Wie kann ich nun Spiritualität im Alltag üben, finden und praktizieren? Es wäre anmassend, ja geradezu dogmatisch, wenn ich den richtigen Weg zur Spiritualität wüsste und vorschlagen könnte. Die Spiritualität kann wie die Freimaurerei nur individuell erlebt werden. Ich kann daher nur an Beispielen aufzeigen, wie versucht werden kann, persönliche Spiritualität zu erleben. Man weiss von vielen Menschen aller Berufsgattungen, insbesondere aber von Musikern, Malern und Schriftstellern wie sie Spiritualität erleben. Sie finden Spiritualität beim Musizieren und beispielsweise Hören von barocker Musik, beim Gestalten und Malen, beim Schreiben, beim Wandern in der Natur oder beim Lesen oder Schreiben von Sinn- und Lebensfragen. Die allernächste Umgebung, die Natur, ermöglicht vielen Menschen, so manch Wundersames zu beobachten, zu hinterfragen und sich daran zu erfreuen. Obwohl ich meine eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten auf diese Weise nicht weiter entwikkeln kann, so bewundere ich doch Menschen, die schön singen können, ein Musikinstrument virtuos beherrschen, eine spannende oder tiefsinnige Geschichte schreiben oder eine Idee mit grosser Anstrengung umsetzen, d.h. zur Marktreife führen können. Sollte dies der Menschheit noch von Nutzen sein, umso grösser ist die Freude und Bewunderung. Ist auch dies eine Form der Spiritualität? Ich empfinde Spiritualität als etwas Übergeordnetes, als integrales Ganzes, als etwas, das nach präzisen und sinnvollen Gesetzen existiert und funktioniert. Jedes Atom, jede Zelle im menschlichen, tierischen und pflanzlichen Organismus erfüllt ihren Sinn und Zweck. Man kann sich nun aber fragen, welches ist der Zweck des gesamten Organismus? Dieses Gesetz haben wir vermutlich noch nicht entdeckt! Mit unseren fünf Sinnen nehmen wir nur einen Teil der gesamten Schöpfung wahr. Die spirituelle Welt ist für unsere Sinnesorgane verborgen, so wie unsere Seele auch.

Nutzen der Spiritualität

Mir geht es bei der Spiritualität wie beim Praktizieren der Freimaurerei: durch die vielen Wiederholungen der gleichartigen Inhalte in den Ritualen entdecke ich stets neue Erkenntnisse. Es darf aber nicht bei den intellektuellen Erkenntnissen bleiben. Es muss immer das Ziel sein, die Erkenntnisse als konkrete Massnahmen im profanen Leben umzusetzen zur Verbesserung der Humanität. Ich bin überzeugt, dass die meisten Menschen das Verlangen nach einem übergeordneten Geist, dem Spirituellen, haben und dass jeder Mensch mehr oder weniger – Egoisten ausgenommen – spirituell ist; Spiritualität ist individuell. Sie wurzelt tief in der Seele der menschlichen Existenz und ist damit jedem Menschen immanent. Spiritualität hat nichts mit einer abgehobenen, schöngeistigen Innerlichkeit zu tun, sondern sie bestimmt das Selbstbild sowie das Handeln des Menschen und damit die praktisch-alltägliche Lebensgestaltung. Spiritualität bezieht sich mit allen Bereichen und Facetten auf das Leben schlechthin und wirkt im Denken, Fühlen und Handeln. Spiritualität soll dazu dienen, unsere Lebensaufgaben besser zu verstehen und unsere Lebensziele erreichen zu können. Eine praktische Spiritualität kann uns auch eine Führung und Begleitung im täglichen Leben sein. Die Eigenschaften, welche wir weiter entwickeln sollten, sind rational schwierig oder gar nicht erfassbar, es geht in erster Linie um die Eigenschaften wie bedingungslose Liebe, Freude, Selbstehrlichkeit, Bescheidenheit und Demut. Es ist deshalb sinnvoll, die geistige Welt – oder anders gesagt die Spiritualität – in unser tägliches Leben einzubeziehen. Spiritualität ist kein Endzustand – ähnlich dem Behauen des rauhen Steins – sondern ein Prozess wie das Leben selbst, das Krisen, Umwege, Niederlagen und Brüche einschliesst. Ob man das Niveau der „kubischen“ um es maurerisch zu sagen – Spiritualität je erreichen wird? Dazu „kann man keinen Lift nehmen“, diese Entwicklung geht wohl nur Schritt für Schritt, ähnlich wie es Beppo, der Strassenfeger, sagt (in Momo von Michael Ende): „Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“ Eine verinnerlichte, d.h. verstandene und gelebte Spiritualität, auf welchem Niveau auch immer, erweist sich darin, dass sie sich in unseren zu bestehenden Herausforderungen und Krisenzeiten (z.B. bei einer tödlichen Krankheit oder im Sterben) als sinngebend und tragfähig erweist. Selbstverständlich bestimmt jeder Mensch selbst in welchem Mass er Spiritualität zulässt oder nicht.

Spiritualität in der Freimaurerei

Die folgenden Aussagen sollen zeigen, dass Spiritualität auch maurerisch begründet werden kann. Symbole, Initiation, Beförderung und Erhebung enthalten eine Fülle von spirituellen Elementen und Inhalten. Leben sie doch wie die Spiritualität selbst vom individuellen Erleben derselben. Der A.B.a.W. repräsentiert doch geradezu das Undogmatische, Universelle, Neutrale, das integrale Ganze des Universums mit seinen Gesetzmässigkeiten. Da gibt es nichts mehr zu interpretieren und unterschiedlich auszulegen. Wir alle anerkennen ihn als den wirklichen Baumeister mit dem göttlichen Plan. Zwischen den uralten Kultformen und der modernen Freimaurerei besteht eine grosse, verblüffende Übereinstimmung bezüglich Suche nach Wahrheit. Liegt bei diesem menschlichen Streben nach Erkenntnis nicht auch ein spirituelles Motiv zu Grunde? Der Begriff „Loge“ wird in der Regel synonym mit „Tempel“ verwendet. Das Wort Tempel stammt aus dem Lateinischen. Es entstammte als Lehnwort aus dem Griechischen (temenos) und bedeutet einen vom Universum abgetrennten Raum. Der Tempel stellt damit einen spirituellen Bezugspunkt zum Universum dar. Vor Tausenden vor Jahren wurde das Labyrinth in allen Erdteilen von Menschen verwendet. Damals gab es noch kein www., kein weltweites Web. Und doch entstanden unabhängig voneinander überall auf der Welt gleiche und ähnliche Labyrinth-Formen. Ist das nicht das Resultat eines universellen, spirituellen Geistes? Ein grosses Übel unserer Zeit ist die Zunahme des Lärms. Bei Tempelarbeiten erleben wir jedoch die Stille – insbesondere die innere Stille – als eine nie versiegende Quelle spiritueller Kräfte. In diesen Tiefen liegen die inneren Werte unseres wahren Seins. Ist es nicht das, was wir aufgewühlte und gestresste Menschen in höchsten Masse nötig hätten? Entspringt nicht auch das Vereinigen in der Bruderkette, d.h. der Wunsch nach Verbindung unserem spirituellen Ursprung, indem wir alle vereint und Teil eines übergeordneten Ganzen sind? In der Freimaurerei stellt die Verflechtung von zwei der drei grossen Lichter (=höchsten Symbole), des Zirkels (Geist, Architekt, Allmächtiger Baumeister) mit dem Winkel (Materie, Mensch als Gattung) ein Gleichgewicht dar. Liegt dieser Transformation, der Einwirkung des Geistes auf die Materie, nicht auch ein spirituelles Konzept zugrunde? Der maurerische Weg von der Initiation über die Beförderung bis zur Erhebung und darüber hinaus beim steten Bearbeiten des rauhen Steines bis wir in den ewigen Osten eingehen ist m.E. vergleichbar mit dem Prozess der Spiritualität oder ist Spiritualität selbst… im ersten Schritt liegt der ganze Weg. Bezweckt nicht der Weg der Initiierten, das eigene Bewusstsein („Erkenne Dich selbst“) und die universelle Identität zu erlangen? Ein Initiierter ist nie ein Fanatisch- Religiöser. Die Religion ist eine Sache, der initiatische Weg durchlaufen ist eine andere. Die königliche Kunst hat zum Ziel wie es im Ritual des ersten Grades angestrebt wird. Meister vom Stuhl: „Bruder Erster Vorsteher, zu welchem Zweck vereinigen wir uns?“ – Erster Vorsteher, an alle Brüder gewandt: „Um uns mit dem Herzen und dem Geist (Spiritualität) in der Suche nach der Wahrheit zu bilden und um zu arbeiten zum Wohle und für den Fortschritt von uns und der ganzen Menschheit.“

John Ruskin bringt es auf den Punkt, er liefert die Argumentation, warum Spiritualität heute nach wie vor zeitgemäss ist: „Der höchste Lohn für unsere Bemühungen ist nicht das, was wir dafür bekommen, sondern das, was wir dadurch werden.“