Ist das Geheimhaltungsversprechen noch zeitgemäss?

K. S. – Akazia, Winterthur

Durch das Gelübde wird der in den Bund aufzunehmende Freimaurerlehrling verpflichtet, über die Erkennungszeichen der Loge, die Gebräuche der Freimaurerei sowie über die Arbeiten und Verhandlungen der Loge die nötige, eines Ehrenmannes würdige Verschwiegenheit «auf Maurerwort» und an Eides statt zu wahren. Der Maurerlehrling hat sein Versprechen dadurch zu bekräftigen, dass er die rechte Hand auf die drei grossen Lichter legt. Das Zeichen, wird er belehrt, beziehe sich auf den Eid der Freimaurer, die sich lieber den Hals durchschneiden lassen, als Verrat zu begehen. Das Wort dürfe nicht geschrieben, sondern nur buchstabiert und in Silben gesprochen werden. Die Geheimhaltung hat also im Freimaurerbund nach wie vor eine eminente Bedeutung.

Richard van Dülmen, der 2004 verstorbene Ordinarius für Geschichte der frühen Neuzeit an der Universität Saabrücken, hob in seinem Werk «Die Gesellschaft der Aufklärer» hervor, dass die Freimaurergesellschaft eine der wichtigsten und verbreitetsten Vereinigungsformen im 18. Jahrhundert war. Sie habe eine ungewöhnlich starke Faszination auf eine breite, adelig-bürgerliche Elite in den damaligen Reichsstädten wie im absolutistischen Staat ausgeübt. Als eines der stärksten Sozialinstitute der moralischen Welt habe sie voll dem Emanzipationsanspruch des gebildeten Mittelstandes entsprochen. Ihr esoterischer Geheimkult, dessen Herkunft zurückverlegt wurde, habe stärkstes Interesse geweckt. Rationale und ‚irrationale’, aufklärerische und mystische Elemente hätten sich aufmerkwürdige Weise verbunden und wirkten ebenso anziehend wie verwirrend.

Lesen wir aus der Rede eines Br. Steinheil, die er 1742 in einer deutschen Johannisloge «Zur Beständigkeit» hielt, was er zum freimaurerischen Geheimnis, zum Sittengesetz und zur guten Gesellschaft zu sagen hatte:

«Die Maurerei, die in unseren Tagen so berühmt ist, ist eine Verbindung einsichtsvoller Männer, die, vereinigt durch das Band der Bruderliebe, geleitet durch die Grundsätze der Moral, sich bestreben, eine vernünftige Gesellschaft zu bilden, zu der jedes Mitglied alle Eigenschaftenmitbringen soll, die die Gesellschaft nützlich und angenehm machen. Um mich maurerischer Ausdrücke zu bedienen, so muss ich Ihnen sagen, dass das Geheimnis, das Sittengesetz und die gute Gesellschaft die drei Pfeiler und Schwibbogen sind, die das prachtvolle Gebäude der Maurerei stützen. Nach jedem dieser drei Grundpfeiler sind uns besondere Pflichten vorgezeichnet, an die wir durch heilige Bande geknüpft sind. Betrachten wir das Geheimnis, so müssen wir nicht allein alles unverletzlich hehlen, was bei uns Geheimnis heisst, und von dem ich Ihnen schon zum Teil Erklärungen gegeben. Wir müssen auch im Allgemeinen uns selbst studieren, um verschwiegen zu sein in allen unseren Worten und Handlungen. Sie kennen zu gut den grossen Nutzen dieser Tugend der Verschwiegenheit, als ich mich jetzt länger dabei aufhalten müsste.

Das Sittengesetz, der zweite Grundpfeiler, der unter sich alle sittlichen Tugenden in ihrem ganzen Umfang begreift, verlangt von uns, dass wir nicht nur in unsern Sitten, immer geordnet und anständig seien, es verlangt auch, dass wir nichts tun, wodurch die Sittlichkeit verletzt werden könnte. Diese Gerade könnte der Prüfstein eines wahren Maurers genannt werden. Wie gross auch unsere Rücksicht gegen Personen ist, die durch ihre Geburt und den hohen Rang, in dem sie in der Welt stehen, Auszeichnung von der Welt verdienen, so beachten wir eigentlich unter uns den Menschen nur, insoweit er gut ist von Natur, und indem wir in dieser Beziehung nur die Wasserwaage der Natur anlegen, schätzen wir uns alle als Brüder. Indem wir also den Lehren des Sittengesetzes, das hauptsächlich die menschliche Gesellschaft vereinigt, folgen, fragen wir bei der Wahl unserer Brüder nicht nach ihrem Glaubensbekenntnis. Wir sind zufrieden, dass sie mit dem Gepräge der Redlichkeit gezeichnet seien. Es ist ausdrücklich verboten, dass in unsern Versammlungen über die Gegenstände der Religion gesprochen werde, um unseren Mitgliedern nicht lästig zu werden, und um alle Missverständnisse zu vermeiden, die bekanntlich aus derlei Art von Erörterung entspringen. Zuchtlose Reden sind nicht minder unverträglich mit der Sittlichkeit; daraus folgt, dass wir uns jeglicher Art leichtfertiger und unsittsamer Gespräche enthalten, die keusche Ohren verletzen und reinen Gemütern nie dienen können. Die gute Gesellschaft, als dritter Grundpfeiler, lehrt uns die Pflichten gegen die Verbindung kennen, der zufolge jeder nach seinen Kräften alles beitragen muss, um sie nützlich und angenehm zu machen. Wir sind daher verbunden, alles fernzuhalten, was Unordnung herbeiführen und die harmonische Einigkeit, die immerdar unter uns herrscht, stören könnte. Darum ist uns unbedingt untersagt, über politische Gegenstände zu sprechen, was meistenteils nur Uneinigkeit und Zwietracht herbeiführt.» Diese gehaltvolle Rede eines Freimaurers aus dem Jahr 1742, hinter der sich mehr verbirgt, als ihr oberflächlich betrachtet zu entnehmen ist – hinzuweisen wäre etwa auf den damals herrschenden Deismus, mithin den Gottesglauben aus Vernunftgründen aus der Natur heraus: der Redner verwies diesbezüglich auf die Wasserwaage der Natur -, wurde, obwohl sie sich nicht auf das Geheimnis des Freimaurerbundes beschränkt, im vollen Wortlaut wiedergegeben, enthält sie doch eine Fülle von maurerischen Grundsätzen.

Namentlich aufgrund ihrer Geheimhaltung waren die Freimaurer von Anfang an Gegenstandvielfältiger Spekulationen. Es kursierten – und kursieren weiterhin – Vermutungen und Gerüchte und nicht zuletzt auch Verschwörungstheorien. Die Freimaurer wurden rasch auf griffige Schlagwörter reduziert. So waren es etwa sie, die die französische Revolution und die Schreckensherrschaft der Jakobiner organisierten, den ersten Weltkrieg auslösten, die Weltwirtschaftskrise für ihre Zwecke der Bereicherung nutzten, in Russland den Bolschewismus trugen und die New Yorker Börse beherrschten.

Einer der bedeutendsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts, Reinhart Koselleck, der den Freimaurerlogen attestierte, dass sie das Zeitalter der Aufklärung entscheidend prägten, befand, dass die Funktion des Maurergeheimnisses im Rahmen des absolutistischen Staates weit wichtiger als ihr wirklicher oder vermeintlicher Inhalt war. In seinem Beitrag «Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt» nahm Koselleck hinsichtlich der Freimaurerei und ihrem Geheimnis folgende Analyse vor:

  • War man einmal initiiert, so schuf das Geheimnis eine neuartige Gemeinsamkeit. Der königliche Tempel wurde durch das Geheimnis erbaut und zusammengehalten, das arcanum war der «Kitt» der Brüderlichkeit.
  • Die gemeinsame Teilnahme am selben arcanum verbürgte zunächst die Gleichheit der Brüder, sie vermittelte die ständischen Differenzen. Das Geheimnis verband, gleich worin sie eingeweiht waren, alle Mitwisser unabhängig von ihrer Stellung in der bestehenden Hierarchie auf eine neue Ebene.
  • Das Geheimnis trennte die Brüder von der übrigen Aussenwelt, und so entwickelte sich durch die Abweisung aller bestehenden sozialen, religiösen und staatlichen Ordnungen die neue Elite, die Elite als Menschheit.
  • Die Teilnahme am Geheimnis hielt ein unbestimmtes Misstrauen und Vorsicht gegen die Aussenstehenden wach; die ständig beschworene Sorge vor «Verrat» trug immer dazu bei, das Bewusstsein der eignen, der neuen Welt zu steigern und damit die Verpflichtung, ihr zu dienen. So fertigte sich durch das Geheimnis das Überlegenheitsgefühl der Mitwisser, das Elitebewusstsein der neuen Gesellschaft.
  • Das Geheimnis sicherte durch seine Abstufung der tatsächlichen Führungsschicht ein überlegenes Wissen. Die Trennung zwischen einem weltlichen Aussenraum und einem moralischen Innenraum wurde in die Gesellschaft selber übertragen und zum Zweck der Führungsaufgaben differenziert. Das Geheimnis wurde damit zu einem Herrschaftsinstrument.
  • Das Geheimnis hatte die Funktion, die Gesellschaft der Freimaurer zusammenzuschliessen und zu schützen gegen die absolutistische Staatenwelt bzw. gegen den absolutistischen Staat und dessen Hoheit. Das Logengeheimnis gehörte zum Naturrecht und brach die Staatsgewalt.

Die Analyse des Maurergeheimnisses durch den ebenso eigenwilligen wie packenden Historiker Koselleck hat viel für sich. Das Geheimnis diente mitunter dem Zusammenhalt, ebnete die ständischen Differenzen ein, sicherte vor Verrat und schützte vor der absolutistischen Staatsgewalt. Die damalige doppelte Frontstellung der Freimaurer gegen Staaten und Kirchen riefen sofort die Gegner auf den Plan. Dieter A. Binder, der an den Universitäten von Graz und Budapest Geschichte lehrt, hielt in seinem Werk «Die diskrete Gesellschaft» fest, dass die Freimaurerei 1735 und 1736 in Holland, Friesland und Genf verboten wurde. Der Calvinismus habe die freimaurerischen Lehren grundsätzlich abgelehnt, weil nach ihrer Auffassung der ‚bessere Mensch’ nur durch die Allmacht Gottes geschaffen werden könne. Die freimaurerische Auffassung von der stufenweisen geistigen Entwicklung des Menschen widerspreche der calvinistischen Überzeugung.

In diesem Klima entstand dann auch die päpstliche Bulle «in eminenti» vom 28. April 1738 in der ein striktes Verbot gegen die Freimaurerei ausgesprochen wurde. Binder fasste die päpstlichen Anschuldigungen wie folgt zusammen:

  • Die Freimaurerei stellt eine Vereinigung von Menschen aller Religionen und Sekten dar, die mit einer gewissen Art von natürlicher Rechtschaffenheit zufrieden sind.
  • Ihr Zusammenleben wird durch ein enges und geheimnisvolles Bündnisnach festgelegten Gesetzen und Statuten geregelt und vor der Öffentlichkeit geheim gehalten, wozu sie sowohl durch einen auf die heilige Schrift abgelegten Eid als auch durch die Androhung strenger Strafen verpflichtet sind.
  • Derartige Zusammenschlüsse verursachen schwere Schäden an der Ruhe des Staates, weshalb die erwähnten Gesellschaften von den weltlichen Obrigkeiten als für die Sicherheit des Staates gefährlich sind.
  • Diese schweren Schäden werden auch dem Seelenheil zugefügt.
  • Allen Christen, sowohl Laien wie Welt- und Ordensgeistlichen, wird unter Androhung der Strafe der Exkommunikation verboten, solchen Gesellschaften beizutreten.

Die Frontstellung gegen Staat und Kirchen, die die Freimaurerei im 18. Jahrhundert auszeichnete, ist heute nicht mehr gegeben. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts besteht jedenfalls für die Schweizerischen Logen der Grundsatz, dass sich diese nicht in parteipolitische oder konfessionelle Streitfragen einmischen (Ziff. 6 Abs. 2 der Allgemeinen maurerischen Grundsätze der SGLA). Kein Staat ausser der totalitäre fühlt sich durch das Logenwesen beeinträchtigt. Dasselbe sollte für die Kirchen gelten. Deren Einfluss hat ohnehin in den letzten Jahrzehnten teilweise drastisch abgenommen. Sodann bedarf der Freimaurerbund wenigstens im gegenwärtigen Westeuropa, namentlich in der Schweiz, keines Schutzwalls mehr vor den herrschenden Mächten. Würde sich das allerdings ändern, wovon kaum auszugehen ist, käme das Geheimnis wieder voll zum Tragen.

Man könnte also mit Fug die Auffassung vertreten, hierzulande auf das Geheimnis, zumindest was den Eid und die Strafe bei Verrat anbelangt, zu verzichten. Das würde den immer wieder kursierenden Verschwörungstheorien den Boden entziehen. Zutreffend weisen Lenhoff/Posner/Binder im Freimaurerlexikon darauf hin, dass das Geheimnis des Freimaurers durch Bekanntmachung aller seiner Einrichtungen schon unzählige Male ‚verraten’ wurde. Nicht anschliessen kann sich der Schreibende ihrer Auffassung, dass der Freimaurerei ohne Geheimnis der «Lebensnerv zerschnitten wäre». Hingegen hat ihre Bemerkung, dass das wahre Geheimnis der Freimaurerei im «Innerlichwerden der freimaurerischen Lehren und ihrer Nutzanwendung auf die eigene Persönlichkeit und die menschliche Gesamtheit » durchaus ihre Berechtigung. In diesem Sinn hob denn auch der genannte Koselleck hervor, dass «die wahren Taten der Freimaurer» ihr Geheimnis sei.

Schliesslich kann man den Worten eines Georg von Wedekind, Mitglied der damaligen Volksgesellschaft in Mainz, beipflichten, der 1794 äusserte: «Es muss Orte geben […], wo man ohne allen Nachteil heute eine Sache gut finden, und morgen nach reiferer Prüfung verwerfen kann: Orte, wo man den Gemeingeist bildet, wo man unter sich eins wird […]». In diesem Sinn möchte der Schreibende das Geheimnis verstehen, dass nämlich alles was in der Loge passiert, vertraulich ist und sich jeder zur Wahrung der Vertraulichkeit verpflichten soll.