Im Dreiklang zum Ganzen

Hierarchien durchziehen unser ganzes Leben

Das hierarchische Leben stellt uns immer wieder vor schwierige Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Sei es im Beruf oder in der Familie. Im Grunde geht es immer darum, als natürliche Autorität, das heisst als gutes Beispiel voranzugehen.

A. B. – Humanitas in Libertate, St. Gallen (Schweizer Freimaurer-Rundschau: August/September 2008)

Mein Sohn fragte mich neulich, was die Ameisen in einem Ameisenhaufen machen würden. Wohnen die da? Wie leben die denn so nahe aufeinander? Ich muss gestehen, ich musste eine Weile überlegen, wie das immer so ist, wenn Kleinkinder so belanglose Fragen stellen; schliesslich schlage ich mich in meinem Alltag mit ganz anderen – viel wichtigeren Fragen herum als das Zusammenleben der Ameisen zu studieren! Wie töricht! Ich sagte so etwas wie: da würden sehr viele Ameisen in diesem Bau leben; er sei durchsetzt von vielen Gängen und Räumen und da gebe es Chefameisen und Arbeiterameisen. Letztere verliessen den Bau, um Sachen zu sammeln, die dann in den Bau geschleppt würden und die Grundlage für die ganze Ameisenkolonie böten. Da gebe es eine strenge Hierarchie. – Aha?! Ich wusste, ich hatte nicht gepunktet. Und doch, wenn ich an dieser Stelle über Hierarchie und Demokratie schreiben soll, dann liegt dieses Gleichnis gar nicht so weit weg.

Drei Ebenen der Hierarchie

Der Begriff der Hierarchie enthält zwei Elemente: hieron: das Heilige und arché: Ursprung bzw. archein: herrschen. Das Wort beschreibt also eine durch Ursprung geheiligte Ordnung. Es schieben sich somit drei Ebenen übereinander: das unfassbare Heilige (Urquell jeder Energie), das Transzendente und schliesslich das fassbare Irdische, die Ebene des Profanen. So wie das Licht eine Quelle der Energie ist, als Helligkeit leuchtet und als Farben in unsere Welt tritt.

Früher, unter dem allumfassenden Einfluss der kirchlichen Instanz, bestand die Legitimation in der göttlichen Absolutheit. Mit der Aufklärung und der Herausbildung moderner Demokratien wurde der alleinige kirchliche Anspruch auf Hierarchien in Frage gestellt. Es entstanden in Laufe der Zeit weitere Arten von Hierarchien wie zum Beispiel militärische Hierarchien, Beamtenhierarchien, Rangordnungen des Rechts oder der im Zuge der Arbeitsteilung in der Industrialisierung entstandene Organisationsbegriff. Allen ist heute gemeinsam, dass solche Hierarchien durch die Säkularisierung nicht mehr (nur) von «oben» legitimiert sind, sondern vielmehr Herrschaftssysteme sind, die durch sozialen Konsens zwischen «Herrschern» und «Beherrschten» entstanden sind. Sie setzen also institutionalisierte Ungleichheit voraus. Grundlegend für alle Gerechtigkeit ist jedoch im Alten Testament der Bund Gottes, den er nicht nur mit seinem Volk, sondern auch mit seiner ganzen Schöpfung geschlossen hat. Dementsprechend ist ein Mensch gerecht, wenn er sich gemeinschaftstreu verhält, wo immer Gott seine Lebensordnung gestiftet hat. Da stellt sich für mich die Frage, ob wir heute bei demokratischen Prozessen wie zum Beispiel Abstimmungen wirklich das Wohl des grossen Ganzen vor Augen haben oder doch eher nach Partikularinteressen argumentieren und entscheiden.

Hierarchie im Alltag

Hierarchien findet man überall um uns herum. Die Vorteile sind offensichtlich: Hierarchien verschaffen eine Ordnung, die Aufgaben, Kompetenzen und Pflichten streng abgrenzt und ein geordnetes, sprich effizientes Zusammenleben und –arbeiten ermöglicht. Ferner ist diese Grundordnung auch Ausgangspunkt persönlicher Entfaltungsmöglichkeit. Würden wir uns immer noch im Hobb’schen Naturzustand befinden, wo alle gegen alle ihr täglich Brot und mehr verteidigen müssen, bliebe kein Raum für Entfaltung und Musse.

Folglich stehen auch einige Nachteile an: Neid, Intoleranz und Ohnmacht gegenüber starren Machtgefügen, die ihrerseits auch sehr innovationshemmend sein können. Hierarchien sind per se weniger dynamisch und flexibel, weil sonst dauernd die Strukturen in Frage gestellt würden und somit ein wesentlicher Vorteil dahin schmelzen würde. In vielen Organisationen ist Überlastung oder Unterforderung der Mitarbeitenden ein schwer wiegendes Problem, das zu Desinteresse und abnehmender Produktivität führt. Der Mensch verliert einen wichtigen Pfeiler: Freude und Harmonie im (beruflichen) Alltag.

Hierarchien entstehen häufig aus Wertvorstellungen: Aristoteles setzte beispielsweise die Hausverwaltungskunst, das heisst Selbstversorgung und Dorfwirtschaft (Ökonomie) über die Kunst des Gelderwerbs und Handels (Chrematistik). Der Handel als nicht-produzierendes Gewerbe war verpönt. Das wirtschaftliche Produzieren dient heute hingegen vorab dem Individuum und seinen Bedürfnissen; das gesellschaftliche Ganze ist weitgehend aus dem Blickfeld verschwunden. Auch Bedürfnisse können in eine Hierarchie gebracht werden, die wir in der Maslow’schen Pyramide wieder vorfinden, die gewisse Bedürfnisse (Grund- oder Existenzbedürfnisse) anderen (soziale Zugehörigkeit oder Prestigebedürfnisse) voranstellen. Auch wenn dies alles bekannt und sehr banal erscheint; bei genauerem Hinschauen eröffnen sich doch bemerkenswerte Punkte: in unserer heutigen Zeit, wo der Schein das Sein doch sehr überglänzt, finden wir Menschen, die Luxusprodukte (z.B. ein neuer Ferrari) als scheinbares Instrument zur Befriedigung von Prestigebedürfnissen konsumieren; bei genauerem Betrachten dürfte es aber nicht erstaunen, wenn hier bloss ein Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit gestillt wird. Das Materielle hat die sinnliche Kontemplation besiegt. Und wie steht es um unser Erziehungs- und Bildungswesen? Als ehemaliger Kantonsschullehrer machte ich oft die Erfahrung, dass Eltern das Beste für ihre Kinder wollten, indem sie das Beste mit Gymnasium gleichsetzten. Eine akademische Karriere sollte das spätere Berufsleben sicherstellen und materielle Sicherheit bringen. Das Handwerk wurde tiefer, niedriger eingestuft.Was für eine Überheblichkeit! Wenn sich das nur nicht rächt!

In der Erziehung muss auch ich als Familienvater mir täglich aufs Neue die Ermessensfrage stellen: wie viel Hierarchie will ich meinen Kindern gegenüber ausleben. Sollen wir sie autoritär oder antiautoritär erziehen? Letzteres ist eine Frage, die sich über die letzten 30 Jahre selbst beantwortet hat; erstere vor 50 Jahren.Was ist also zu tun? Kinder (aber auch Erwachsene!) brauchen Strukturen, um zu lernen und die Eindrücke zu verarbeiten. Da bin ich als Vater (aber auch die Mutter) die Leitfigur, die Autorität. Bloss: Autoritäten, die sich über das Alter, Hierarchiestufe oder aus Anciennität definieren, sind auf Dauer unglaubwürdig und kontraproduktiv. Wir können also nur als natürliche Autoritäten bestehen, konkret: indem wir als gutes Beispiel vorangehen und vorleben, was sein soll. Kommt uns Freimaurern das irgendwie bekannt vor?

Demokratie in der Freimaurerei

Wie sieht es nun aber bei uns selber aus? Haben wir nicht eben diese strenge Hierarchie in unseren eigenen Reihen? Die drei Grade; ferner den Meister vom Stuhl, den ersten und zweiten Aufseher? Den Hammer zur symbolischen Disziplinierung? Wahrlich eine heikle Frage! Und doch: die drei Grade sind nicht in einer ordinalen Stufung zu verstehen; ebenso sind die drei Lichter «Weisheit», «Stärke» und «Schönheit» nicht hierarchisch zu begreifen, sondern komplementär – sie ergänzen sich zu einem vollständigen Ganzen. Die symbolische Disziplinierung soll uns vor Augen halten, dass die Ideale, nach denen wir zu leben trachten, stets mit Arbeit verbunden ist – eine Gratwanderung zwischen Wollen und Scheitern. Und die vermeintliche Unterordnung in den ersten zwei Graden ist als Teil einer demütigen Menschwerdung innerhalb einer toleranteren Gesellschaft zu verstehen – auch wenn dies anfangs Mühe bereiten kann. Jeder bringt sich so ein in das Ganze wie er nach seinen Eignungen und Neigungen vermag – ganz ohne Wertung und Unterordnung seitens der anderen.

In der Biologie gibt es dafür einen Begriff: das Rhizom. Es handelt sich dabei um ein nicht monohierarchisches Gebilde, also nicht um ein Gewächs, das nur einen Stamm hat, und wenn man diesen Stamm oder Stängel durchtrennt, stirbt auch das Gebilde. Vielmehr ist es eine Form verteilter, autonomer Zweige wie beispielsweise das Internet oder eine Ingwerwurzel (siehe Bild). Der Ingwer kann irgendwo abgetrennt werden, und er wächst an der anderen Stelle weiter. So verstehe ich Freimaurerei. Jeder einzelne von uns bearbeitet seinen Stein zum Bau des Tempels der Humanität; und wenn ein Stein einmal ausfällt, so wird er durch einen anderen ersetzt – auch wenn dieser eine andere Färbung aufweist oder etwas anders behauen ist – das Bauwerk steht. Und wenn ich einmal nicht mehr da sein werde, wird mein Sohn seine Fragen mit anderen besprechen und beantworten; und dann vielleicht, in einem fernen Moment, selber seinen Kindern deren Fragen stutzend und staunend zu beantworten versuchen.