Gelebte Brüderlichkeit – mehr als ein Lippenbekenntnis

Gelebte Brüderlichkeit – ist Sache eines jeden Freimaurers

Der maurerische Brudergedanke ist für die Freimaurerei von besonderer Bedeutung. Der neu aufgenommene Bruder wird schon im ersten Gelübde, das er noch mit verbundenen Augen am Altar ablegt, auf die Brüderlichkeit verpflichtet. Und das ist ein ernstes Versprechen, mehr als ein Lippenbekenntnis.

M. B., alt Stuhlmeister der Loge Modestia cum Libertate, Zürich (Schweizer Freimaurer-Rundschau: August/September 2007)

«Bruder!» – In der freimaurerischen Umgangssprache und Literatur findet sich kaum ein zweiter Begriff, der in all seinen Abwandlungen häufiger auftauchte und unsere Gemütskräfte herausforderte. Bruderbund, Bruderkette, Brudertreue, Bruderliebe, brüderlich, um nur einige zu erwähnen. Aber es geistert in unserem Kreis auch kein anderes Wortgebilde herum, das so oft herbeibemüht und hinsichtlich seines Sinngehaltes so oft beliebig zurechtgebogen, missverstanden und den Frieden auf die Probe stellen würde wie dieses. Denn das, was der Eine im Brustton der Überzeugung für brüderlich und der Andere für unbrüderlich hält, entpuppt sich nicht selten als gefährlicher Tanz auf dem hohen Seil der Ideale und hat schon manchen Freimaurer in die Tiefe gerissen. Lasst uns deshalb etwas näher damit beschäftigen. «Bruder» stammt aus dem alt- und mittelhochdeutschen «bruoder» und geht zurück auf eine Zeit, als die indogermanischen Stämme noch ein Volk ohne grosse mundartlichen Unterschiede waren und hat sich bis heute kaum verändert. Das Wort bezeichnete einst fast ausschliesslich die Blutsverwandtschaft zwischen zwei Männern, die vom selben Elternpaar abstammen. In vielen Kulturen steht es ebenso für Freundschaft und Freundesliebe zwischen männlichen Personen.

Manche religiöse Ordensgemeinschaften kennen den Begriff des Ordensbruders; sie meinen damit ihre nicht-priesterlichen Mitglieder, benützen dafür häufig die lateinische Bezeichnung «Frater» und fügen dieser den Vornamen an – wie bei den geweihten Priestern, den Patres. Auch andere Gemeinschaften sprechen von Brüdern und Schwestern und verstehen darunter entweder ihre Stammeszugehörigkeit oder ihre geistige Verwandtschaft. Wir Freimaurer nennen uns vom Moment unserer rituellen Aufnahme an gegenseitig «Bruder» und drücken damit unsere gemeinsame Einweihungs-Erfahrung und die Beziehung unseres Bundes zum aufklärerischen Gedanken der Brüderlichkeit aus. Einer Reihe von mehr scherzhaften Deutungen des Bruder-Begriffes begegnen wir ferner im Volksmund, wenn wir zum Beispiel jemanden als «liederlichen Bruder» abtun, über den «grossen Bruder» föppeln oder einander «unter Brüdern gesagt» Geheimnisse zuflüstern.

Und was hat es mit der Brüderlichkeit für eine Bewandtnis? Der Begriff scheint zurückzugehen auf den griechischen Philosophen Zenon dem Jüngeren, der vor 2300 Jahren die Zusammengehörigkeit, Gleichheit und Würde aller Menschen betonte und deshalb die Brüderlichkeit aller in einem Weltstaat forderte, auch wenn er sich diesen kaum sehr weit über den altgriechischen Kulturraum hinaus vorgestellt haben dürfte. Dennoch: gedacht als Mittel, das archaische Stammes- und Sippendenken zu überwinden, das damals jeden Nachbarn als potenziellen Feind und damit als bedrohlich betrachtete und im Alten Testament durch Kains Brudermord an Abel verewigt ist. Auf die Frage von Gott an Kain: «Wo ist dein Bruder Abel?» antwortete Kain: «Ich weiss nicht. Bin ich denn meines Bruders Hüter?» Später wurde der Brudergedanke vom Christentum übernommen und vertieft. So predigte Jesus die Nächstenliebe und schloss darin auch den Feind ein.

Wie wenig solche Appelle fruchteten, lässt sich etwa daraus ableiten, dass von der Antike bis ins 17. Jahrhundert hinein der Bruder- und Schwesternmord aus Angst vor dem Nebenbuhler um die Herrschaft weit verbreitet war. Und auch die Väter der Französischen Revolution, auf die wir Freimaurer uns so gerne berufen, verkündeten eine doch eher streitbare Brüderlichkeit. Denn den Sklaven und ihren politischen Gegnern aberkannten sie die Bruderschaft nach dem Motto «und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag’ ich dir den Schädel ein». Nicht besser verhielten sich Marx und Lenin, waren sie doch weit davon entfernt, in ihrem antikapitalistischen Kampf das geknechtete Proletariat zu lieben. Und deren Nachfolger ersetzten in ihrem Jargon des 20. Jahrhunderts die Brüderlichkeit durch die Solidarität und jüngst durch das blutleere «political correctness».

Wohltuend von solcher Unverbindlichkeit hebt sich Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 ab, der wieder an Zenon und an die Aufklärer erinnert und die ethischen Aspekte des Begriffs betont: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen. ». Dem kommen die Allgemeinen Maurerischen Grundsätze der Schweizerischen Grossloge Alpina nahe, wo es heisst, die Freimaurer betrachteten sich als Brüder… und sähen es als ihre Pflicht an, «brüderliche Gesinnung unter sich und gegenüber ihren Mitmenschen zu erwecken und zu betätigen». Und unter den Mitteln, die dazu verhelfen sollen, wird unter anderem ausdrücklich die Bruderliebe angeführt. Ähnliches ist in den Zweckbestimmungen vieler anderer Institutionen auszumachen, weshalb wir Freimaurer uns damit kaum brüsten können. In einem wichtigen Punkt aber unterscheidet sich unser Bruderschaftsbekenntnis von andern: in seinem verpflichtenden Charakter.

Der neu aufgenommene Bruder, verspricht am Altar mit der rechten Hand auf die Bibel und Winkelmass und Zirkel gelegt: versprochen: «Ich gelobe… meinen Brüdern ein treuer Bruder zu sein, in Freud und Leid, mit Rat und Tat und verschwiegen zu bewahren, was mir ein Bruder anvertraut… meine Mitmenschen zu lieben als Brüder und ihrem Wohle mich zu weihen, mein Leben lang.» Das ist viel, wenn wir es ernst nehmen, sehr viel. Aber, was ist überhaupt damit gemeint? Wir werden nicht Freimaurer, indem wir unsern Beitritt zum Bunde erklären, das Gesetzbuch erhalten und lesen, jedes Jahr pünktlich den Mitgliederbeitrag leisten, uns maurerisch schmücken und regelmässig an unsern Konferenzen und Tempelarbeiten teilnehmen. Und wir praktizieren noch keine Brüderlichkeit, wenn wir uns zunicken, die Hand reichen, Freundlichkeiten austauschen, die Kette bilden und gemeinsam tafeln. Das Maurergelübde fordert von uns mehr als ein Ja zu ein paar hehren Grundsätzen, die wir ebenso rasch wieder vergessen dürften, wenn die Kerzen im Tempel verglimmen, uns die profanen Themen im Konferenzsaal und der Alltag in Familie, Beruf und Gesellschaft wieder eingeholt haben.

Nein, unser Bund ist einer handelnden Ethik verpflichtet, überlässt das aber weitgehend dem einzelnen Mitglied. Ohne sie verkämen unsere Prinzipien der Humanität, des Kosmopolitismus, der Toleranz und damit auch der Brüderlichkeit zur Makulatur. Humanität im freimaurerischen Sinne beschäftigt sich in erster Linie mit der Würde des Menschen als Grundbedingung unseres geistigen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenlebens, sowie mit dem Aufruf, uns für sie einzusetzen, wo man sie ächtet, und sie zu verteidigen, wo sie bedroht wird. Denn der Mitmensch ist für uns nicht einfach ein Zeitgenosse und Partner. Er ist nach unserer Überzeugung vielmehr ein uns vor den Gesetzen der Natur und der geistigen Welt gleichgestelltes Wesen, eben unser Mit-Bruder am grossen Familientisch des Allmächtigen Baumeisters aller Welten. Mag uns von ihm noch soviel unterscheiden, im Tiefsten seiner Seele wirkt der gleiche Funken, der auch in uns schlummert und der uns mit jedem verbindet. Das allein schon gebietet uns, unsern Bruder zu achten und zu lieben und uns im Geiste des volkstümlichen «Grüss Gott» oder mit der in andern Kulturräumen gebräuchlichen Verneigung vor dem im Mitmenschen innewohnenden Göttlichen zu begegnen.

Doch das genügt nicht. Wir sind auch angehalten, Anteil zu nehmen am Schicksal unseres Bruders, ihm beizustehen mit Rat und Tat – zeitlebens und wo immer das nötig ist. Auf diesem anspruchsvollen Weg der Königlichen Kunst, wie wir sie nennen, bleiben Enttäuschungen nicht erspart. Man darf sich durch sie nicht entmutigen lassen sondern man muss unbeirrt fortschreiten. Denn es gehört seit alters in Ost und West zu den tiefsten Lebensweisheiten, dass die Leiderfahrung unsere beste Lehrmeisterin ist. Wenn Menschlich-Allzumenschliches mal nerven oder umgekehrt im Lichte unserer humanitären Grundsätze Untolerierbares mit einer missverstandenen Brüderlichkeit entschuldigt werden sollte. Die Loge widerspiegelt nichts anderes als den Geist der Brüder, die sie bilden, tragen, prägen und dass sie genau so viel wert ist, wie das, was jeder Bruder in sie einbringt.

Gefordert ist kein blinder Kadavergehorsam, sehr wohl aber eine von Selbstdisziplin, Einfühlungsvermögen, Zuneigung und Hilfsbereitschaft geprägte Brüderlichkeit, gepaart mit der Einsicht und dem Willen, uns selbst und unsere eigenen Meinungen und Anliegen auch mal hintan zu stellen, wenn es die Lage erfordert und das dem Wohl und dem Frieden der Loge und unter den Brüdern dient. Auch wir Freimaurer haben nämlich hier und jetzt allen Grund, die Mahnung des Apostels Paulus in seinem Hebräer-Brief zu beherzigen: «Bleibet fest in brüderlicher Liebe!»