Fortschritt und Freimaurerei

Wir Freimaurer wollen und sollen mit dem Fortschritt Schritt halten

Ohne Einsicht geht es einfach nicht. Das Thema mag noch so ansprechend sein: Die Menschheit sucht Fortschritt, die Menschheit macht laufend Fortschritte. Die Menschheit hat sehr viel Fortschritt gemacht. Denk nur mal an die Medizin!

H.-U. S., Loge Libertas et Concordia in Chur (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Juni/Juli 2007)

Um Fortschritt auch nur ganz allgemein und in kürzesten Worten zu hinterfragen, müssen wir vorerst gewillt sein, gleichzeitig schonungslos uns selber zu hinterfragen.

Was zeichnet die heutige Menschheit gegenüber der gestrigen aus? Wie angedeutet, wir überleben Krankheiten und Alterserscheinungen viel besser, es werden viele Leben «gerettet», das heisst, sie werden verlängert. Unser Allgemeinwissen erweitert sich mit jedem Tag. Wir geniessen abwechslungsreicheres und ungewöhnlicheres Essen, wir können jährlich mehr und ausgefallenere Dinge kaufen und ansammeln. Wir können immer weiter reisen, wir sind mit der restlichen Welt näher verbunden, wir wissen was wo vor sich geht.

Und wir glauben dann zu wissen, was für andere Völker richtig und gut ist und fühlen uns dafür verantwortlich dieses unser Wissen ihnen zu übermitteln. Wir fühlen uns dafür verantwortlich, nur schon dem globalen Wachstum zuliebe, andere Völker von unserer fortschrittlichen und damit beispielhaften Lebensweise zu überzeugen. Auch wenn dies «vorübergehend» unzählige Leben, unzählige Verletzte und Millionen von Vertriebenen kostet.

Nun, zwar war Letzteres wohl schon vor Jahrhunderten so. Denken wir doch beispielsweise an die Länder und Völker unter dem ottomanischen Reich, die Opfer der spanischen Inquisition oder dem erhofften tausendjährigen Reich.

Aber eben: Der sterbliche Mensch hat ja wohl nichts Bleibenderes zu erschaffen als seine, wenn auch illusorische Hoffnung, mit seiner Zeit Schritt gehalten zu haben oder ihr gar voraus geschritten zu sein, um irgendwie in der Welt sein eigenes bleibendes Zeichen gesetzt zu haben.

So ist der Mensch – Und auch der Freimaurer gehört zur Menschheit.

Suchen wir also nach möglichem Fortschritt in unserer Brüderschaft. Denn wer unter uns möchte sich schon als altmodisch oder gar abergläubig beschuldigt sehen?

Welches sind die besonderen Anliegen der Freimaurerei, was ist unser Zweck, das Ziel unseres Strebens? Und wie und wo müssen sie den veränderten Zeiten angepasst werden?

Was muss man sein, um Freimaurer zu werden? – ein freier Mann von gutem Ruf und edlem Streben!

Obwohl Obiges auch schon hinterfragt wird, dürfen wir vorläufig noch behaupten, der Freimaurer sei ein freier Mann von gutem Ruf und edlem Streben. Wir meinen damit wohl, dass er frei seine eigene Meinung bilden, wenn nicht gar öffentlich vertreten dürfe, und dass er grundsätzlich, also auch sich selber gegenüber, ein ehrlicher Mensch und sich für moralisch hoch stehende Prinzipien einzusetzen bereit sei. Ja, er gelobt sogar solches als seine Pflicht zu betrachten und ihrethalben Opfer zu bringen!

Und hier sind wir schon an dem Punkt angelangt, wo wir die Freimaurerei von allen anderen Bruderschaften und Organisationen unterscheiden können: Des Freimaurers tiefstes Anliegen ist die Toleranz anderen gegenüber. Er soll sich selber darin üben, gleichzeitig aber auch die ihn umgebenden Menschen zu Gleichem anspornen.

Toleranz beinhaltet nämlich das lateinische Wort «tolerare», auf Deutsch «erdulden», also nichts anderes als das bewusste Erdulden anderer Meinungen und Überzeugungen. Es ist Tatsache, dass jegliche Konfrontation mit Andersdenkenden, gläubigen oder gar anders Handelnden, unvermeidlich zu oft unerträglich erscheinendem Unbehagen führen muss. Und wer nicht dazu bereit ist solches Unbehagen zu erdulden, der kann niemals tolerant sein. Denn das zu akzeptieren, was zwar neu erscheint, uns aber keine emotionellen Schwierigkeiten bereitet, das bedarf keiner Toleranz, kein Dulden. Und es ist den weisen Freimaurern zuzuschreiben, dass sie immerhin unser aller Leben etwas zu erleichtern suchen, wenn sie uns dazu mahnen, mindestens unter uns selber politische oder religiöse Argumentationen zu vermeiden. Denn so können wir uns einander näher fühlen.

Andererseits sind wir ja dazu aufgefordert der Welt gegenüber hohe moralische Prinzipien zu vertreten, so auch gegen Völkermord, gegen Krieg und Ungerechtigkeit aufzutreten. Und so wären wir wohl auch gefordert im Weltgeschehen eine aktive Rolle zu spielen, wie dies ja auch bei den Gründern der Vereinigten Staaten vor Jahrhunderten der Fall gewesen war.

Und was hat all das mit Fortschritt zu tun?

Leider oder glücklicherweise nichts. Denn, ob man allgemein am Fortschritt mitzumachen sucht oder nicht, die Grundsätze der Freimaurerei bleiben unberührt. Es ist für mich eine verführerische und sinnvolle Theorie zu denken, dass die Tempelritter als freidenkende Menschen tatsächlich ihr Leben und ihren guten Ruf für edles Streben einsetzten, und dass die nach ihrer Verfolgung Überlebenden ihre Prinzipien durch deren Übertragung auf andere neue aber gleich gesinnte Bruderschaften wie beispielsweise die Freimaurerei zu übertragen wussten. Und heute noch gilt für den aufrichtig Suchenden – zu denen der Freimaurer gehört – dass er sich in seinem Wissen vorwiegend auf in Sinnbildern ausgedrückte Erkenntnisse alter Esoteriker wie Pythagoras, Jesus, Laotse, der Tempelritter und andere schliesslich eben auch auf die Freimaurerei stützt. Fortschritt im rationalen Denken, in Form von Erfindungen und logisch ausgedachten Plänen verlängert zwar des Menschen Leben, hat ihn aber auf keine Weise veredelt oder sein Leben sinnvoller gestaltet als es je war.Wenn wir nach «Fortschritt» suchen, müssen wir also vorerst einmal «rückwärts» schreiten auf dem Weg der Wiederentdeckung von bereits lange zuvor Gedachtem und Gewusstem, also auch von Esoterik. Denn das uns als Beispiel vorschwebende Streben unserer Vorväter hat sich inhaltlich über die Jahrhunderte in keiner Weise verändert. Und die generell angeborenen Schwächen des Menschen, seine Intoleranz und Arroganz als Ursache aller bis zum heutigen Tag begangenen Spannungen, Kriege und andere nur allzu menschlichen «unmenschlichen » Taten haben sich ebenso wenig geändert und werden sich mit keinem mir denkbaren Forschritt ändern.

Damit gibt es für die Freimaurerei schliesslich doch noch die Möglichkeit für auch von uns erhofften Fortschritt: Wir haben uns dazu verpflichtet, über die Dauer unseres Lebens in der Übung von Toleranz Fortschritte zu machen. Dazu gehört vorerst, dass wir auch im täglichen Erdulden anderer Sitten, anderer Völker, anderen Denkens und Handelns Fortschritte machen.

Und heute gibt es sogar die Möglichkeit einer ganz neuen Art Fortschritts für die Freimaurerei: Jetzt wo unsere Bruderschaft nicht mehr im Verborgenen vegetieren, sondern in aller Offenheit existieren darf. jetzt wo die Freimaurer nicht mehr verfolgt werden, ergibt sich uns die Möglichkeit, ja die Verpflichtung, mit unserem Wissen und unseren Idealen an die Öffentlichkeit zu treten, um diese möglichst konkret und nützlich der restlichen und besonders der verantwortungsvollen Bevölkerung mitzuteilen.Wir müssten es heute wagen können, öffentlich gegen alles dem Menschen Unwürdige entgegenzutreten, unabhängig von Politik und Religion.

Aber dazu müssen wir es zu erdulden lernen, dass man uns belächeln und als altmodisch und unfortschrittlich abzutun suchen mag. Falls wir wirklich ehrlich nach Fortschritt suchen sollten. Auf jeden Fall aber möge uns der Allmächtige Baumeister aller Welten davor bewahren, unser edles Streben nach Toleranz und Friedfertigkeit gegen irgendwelche fortschrittliche neue und politisch korrekte Prinzipien eintauschen zu suchen!

Dr.med. H.-U. S. (ehem. clinical professor of psychiatry, University of Miami School of Medicine)