Die Wanderung: Symbol mit reicher Tradition

Der Geselle hat den zweiten Schritt in seinem maurerischen Leben in Angriff genommen. Er geht auf Wanderschaft, und das in doppeltem Sinn. Einmal physisch, indem er andere Logen besucht und damit unterschiedliche Kulturen kennenlernt. Das ist gut so, denn es öffnet den Horizont. Dann macht er sich aber auch im symbolischen Sinn auf Wanderschaft. Er hat an sich gearbeitet und begibt sich nun auf eine zweite Stufe der maurerischen Arbeit am grossen Werk der Humanität. Er tritt nach aussen. Er wird tätig. Er exponiert sich. Als Lehrling zählte er ganze drei Jahre, als Geselle hat er deren fünf. Er sieht: Es liegt noch ein langer Weg vor ihm.

T. M.

Das Leben wird von alters her mit einer Wanderschaft verglichen. Ja, man darf von einem Archetyp sprechen, der in allen Kulturen begegnet. Parzival ist wörtlich übersetzt einer, der das Tal durchmisst. Wandermönche setzen ihre Spiritualität physisch um. Die australischen Ureinwohner haben ihre «songlines», eine unsichtbare, mythische Landkarte, die per Gesang über alle Generationen tradiert wird und die Grundlage ihrer Wanderungen bildet. Die Hadsch der Muslime nach Mekka, die christliche Pilgerfahrt auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela gelten als Erfüllung eines frommen Lebens. Den Bogen zur Transzendenz schlägt bereits Paulus, der schreibt: «So lange wir leben, wandern wir zu Gott.» Die Hindus sprechen von der Seelenwanderung: Nach dem Tod verlässt die Seele eines Menschen den Körper und tritt in ein anderes Lebewesen ein. Und zeitgenössische Philosophen sprechen vom «nomadisierenden Denken», das sich zwischen den unterschiedlichsten Disziplinen bewegt, sich jeglichem Diktat entzieht und sich unorthodoxe Spuren bahnt.

Die Wanderung des Lebens ist nicht immer einfach. Aber sie ist im Menschen angelegt. Ebenso wenig, wie Schiffe für den Hafen gebaut werden, ist der Mensch dazu berufen, sich sein Leben lang in einer komfortablen Ecke zu verbarrikadieren. Ich bin überzeugt: Wer Freimaurer wird, hat diesen Gedanken ganz ausgeprägt in sich. Kein Wunder, vollziehen die Brüder auch im Gesellengrad ihre symbolischen Reisen.

Dante: «Im dunklen Wald»

Wer sich auf den Weg begibt, muss auch mit Ängsten Zweifeln, Verunsicherung, Verlust der Orientierung rechnen. Die gehören dazu, ob man das will oder nicht. Eine der grossartigsten Passagen der Weltliteratur spricht davon. Es sind die ersten drei Zeilen aus der «Divina Commedia » des italienischen Dichters und Philosophen Dante Alighieri (1265– 1321). Sie lauten wie folgt:

« Nel mezzo del cammin di nostra vita / mi ritrovai per una selva oscura, / ché la diritta via era smarrita. »

Zu deutsch: «In der Mitte unseres Lebens / fand ich mich in einem dunklen Wald wieder / abgekommen vom richtigen Weg.»

Die Wanderung in der «Divina Commedia », die von der Hölle über das Purgatorium ins Paradies führt, beginnt damit, dass sich einer schmerzlich bewusst wird, wohin ihn seine Wanderschaft geführt hat: an einen Un-Ort. Darin liegt eine tiefe Symbolik. Freimaurer wird man ja oft auch deshalb, weil einen das im profanen Leben Erreichte nicht mehr zufrieden stellt, weil es nicht mehr so viel Reiz und Sinn in sich hat wie z. B. in den Anfängen einer beruflichen Karriere. Wie in Trance hat man die Jahre zugebracht und sich kaum je aus dem Ganzen hinaus begeben. Der bisherige Lebensabschnitt hat seine Berechtigung, das steht ausser Frage. Aber es ist Zeit, innezuhalten und sich zu fragen: Wo bin ich gelandet? Und wie soll es weitergehen?

Wer sich auf eine Wanderung macht, braucht Orientierung. In unseren Symbolen und Ritualen ist viel davon greifbar. Sie bilden ein Vokabular, das den Dialog unter Brüdern vereinfacht und vertieft. Das ist nicht zu unterschätzen. Erlebnisse kann man dann mit anderen Menschen teilen, wenn eine gemeinsame Sprache besteht. Bleibt dies Gemeinsame unter dem Verschluss des Schweigens nach aussen, verstärkt sich diese Wirkung noch.

Mit der Beförderung werden dem Gesellen auch Mittel in die Hand gegeben, seine Lebens-Wanderung mit Mut und Zuversicht fortzusetzen und Schwierigkeiten als Teil dieses Unterfangens zu verstehen. Diese sprechen nicht gegen den maurerischen Weg, sondern vielmehr für seine Eignung zur Individuation, zu einem Ganz-Werden, das uns nicht zuletzt zum Wirken in der profanen Welt befähigt.

Petrarca: «und vergessen sich selbst»

Eine der berühmtesten Wanderungen der Geistesgeschichte ist die eines andern Autoren des Trecento, Francesco Petrarca (1304–1374). Der italienische Humanist bestieg 1336 zusammen mit seinem Bruder den Mont Ventoux in der Provence und formulierte seine Erlebnisse in einem Brief. Dieses «document humain» zeugt vom Übergang des Mittelalters in die Renaissance. Die Schlüsselszene spielt sich auf dem Gipfel ab. Petrarca geniesst die Aussicht als solche, ohne die mittelalterliche Auffassung, welche die Natur lediglich als Verweis auf Gott versteht. Für ihn hat sie durchaus ihren eigenen Wert. Er schlägt die «Bekenntnisse» des Kirchenvaters Augustinus auf, ein Buch,  das er immer mit sich trägt. Er schlägt sie auf und trifft zufällig auf einen Passus, der ihn direkt anspricht. Die Stelle lautet:

«Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfliessenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.» (Confessiones X, 8)

Das Erleben der Natur – ein ästhetischer Akt – und die Rückbesinnung auf sich selbst – ein kontemplativer, reflektierender Akt – ergeben zusammen ein durchschlagendes Erlebnis. Über dieses ist schon viel geschrieben worden. So wird auf das Bekehrungsmotiv bei Augustinus und Paulus hingewiesen oder auf die aufkommende Landschaftsmalerei der Renaissance. In unserem Fall geht es darum, einen Bezug zur Freimaurerei herzustellen, der Petrarcas Brief weniger in wissenschaftlicher Exegese denn als Ausgangspunkt masonischer Überlegungen zu verstehen sucht. Das geschieht im Folgenden unter drei Aspekten: der Aufbruch ins Unvertraute, das dialogische Prinzip und die Dialektik der beiden Grade des Lehrlings und des Gesellen.

Wie schon bei Dante ist auch bei Petrarca die Natur eine Szenerie für zutiefst existentielle Vorgänge. Ist es beim Ersten der dunkle Wald, in den es den Wanderer verschlagen hat, so ist es beim Zweiten ein Berg, den zu besteigen dem Menschen der damaligen Zeit fern lag. Was soll man dort oben? Ein alter Mann, dem Petrarca und sein Bruder begegnen, schildert den Aufstieg als schreckliches Unterfangen. Und in der Tat begegnen die Brüder heiklen Stellen und müssen immer aufpassen, sich im Gelände nicht zu verlieren. Sie nehmen Mühen auf sich, um etwas zu tun, was andern nicht einmal in den Sinn kommt. Sie bewegen sich aus der komfortablen Zone des «Selbstverständlichen» hinaus und betreten Neuland. Sie wagen, riskieren, kämpfen, nicht zuletzt mit sich selbst, beweisen Mut. In dieser Hinsicht lassen sie sich mit uns Freimaurern vergleichen. Auch wir lassen die Komfortzone hinter uns und begeben uns auf eine anspruchsvolle Wanderung. Auch wir wissen nicht genau, was uns in unserer masonischen Entwicklung begegnen wird. Auch wir stecken unsere Ziele hoch und werden dabei nicht von allen Menschen verstanden.

Petrarca lässt sich auf die Landschaft ein. Aber er tritt auch in den Dialog mit seinem ständigen Begleiter: Augustinus und dessen «Bekenntnissen». Böse Zungen könnten ergänzen: Und er weiss das bestens zu inszenieren. Es kommt zu einem Moment des Erkennens, ja man könnte sagen: des Ertappt-Werdens. Petrarca wird unvermittelt auf sich selbst zurückverwiesen. Die Szene erinnert an ein Phänomen, das wir aus dem Alltag kennen. Man befasst sich intensiv mit einem Thema und staunt dann, wenn man just zu diesem eine Zeitungsmeldung, ein Buch im Schaufenster, einen Menschen antrifft, die damit zu tun haben. Die Symbolisten des 19. Jahrhunderts nannten dies «correspondances». Der Grund für diese «Entsprechungen» liegt wohl darin, dass wir besonders empfänglich sind, mit der Umwelt in einen Dialog treten. Petrarca lässt die Augustinus-Stelle auf sich wirken. Er lässt sich auf sie ein. Wir Freimaurer stellen derlei bei unseren Tempelarbeiten fest. Öffnen wir uns den Ritualen und Symbolen, kann es zu Aha-Erlebnissen kommen, zu Denkanstössen, neuen Blickwinkeln, Betroffenheit. Das ist aber nur möglich, wenn wir zu den Ritualen und Symbolen in einen Dialog treten. Sind wir in uns selbst befangen, kann dieser Dialog nicht stattfinden. Entsprechend geht es im Ritual darum, den «Lärm des Tages» hinter sich zu lassen.Und hier sind wir beim dritten Punkt, der Dialektik der beiden Grade des Lehrlings und des Gesellen. Der erste Grad ist stark vom Selbstbezug geprägt, von der intensiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken und Handeln und davon abgeleitet von der Arbeit am rauen Stein. Der Blick ist nach innen gerichtet. Der zweite Grad weist in die umgekehrte Richtung, nach aussen. Die Introversion des Lehrlings und die Extroversion des Gesellen stehen in engem Verhältnis. Dem einen Bruder liegt vielleicht der Bezug nach innen mehr als jener nach aussen oder umgekehrt. Wichtig ist, dass man seine Persönlichkeit gerade dort stärkt, wo sie noch schwach ist. Die Versuchung, Stärken noch zu fördern und Schwächen zu vernachlässigen, ist gross. Dass wir ein Leben lang Lehrlinge bleiben, bedeutet nicht zuletzt, die Introversion nie zu vernachlässigen. Was zählt, ist die Balance. Nur sie ermöglicht es, dem maurerischen Menschenbild gerecht zu werden.