Die tschechischen Jubiläen

Internationale Bruderkette

P. V. – Catena Humanitatis, Zürich (Schweizer Freimaurer-Rundschau: November 2010)

Eigentlich gäbe es in Tschechien immer einen Grund, etwas zu feiern oder an ein historisches Ereignis sich zu erinnern. Denn sehr bunt ist die Historie Mitteleuropas. Der unmittelbare Anlass für diesen Artikel ist der 20. Jahrestag der Wiederbelebung der „Grossloge der Tschechischen Republik“. So etwas passiert nicht jeden Tag. In Tschechien allerdings relativ oft: Indenletzten90Jahren ist es nun bereits zum dritten Mal. „Für uns ist es nicht nur ein runder Jahrestag, den wir feiern, weil es sich so gehört; es ist zum ersten Mal in der Geschichte der tschechischen Freimaurerei, dass wir heute auf einen Zeitabschnitt von ununterbrochener Arbeit zurückblicken können, der länger als20Jahre ist.“, sagt Bruder Jan Brousek, der kürzlich gewählte Grossmeister der Grossloge „Veliká Lóže České Republiky“, („Die Grossloge der Tschechischen Republik“).

Zur Einstimmung

Der Auftrag zum Bau der Prager St. Veit- Kathedrale wurde von Kaiser Karl IV. erteilt. Die Grundsteinlegung fand im November 1344 statt. Erster Baumeister war Matthias von Arras, nach seinem Tode übernahm Peter Parler den Bau. Die Arbeiten wurden erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts abgeschlossen. In dieser Zeit schuf Alfons Mucha in der Kathedrale eine Vitrage. Mucha wurde als Maler, einer der Begründer von Art Nouveau, berühmt. Er war auch ein sehr aktiver Freimaurer.

Die Vorgeschichte

Die Freimaurerei auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik hat eine lange Geschichte. Sie ist aber bis 1918mitderHistoriederFreimaurereiindem Kaisertum Österreich (ab 1867 Doppelmonarchie Österreich-Ungarn) eng verbunden. Die erste Loge im Königreich Böhmen, das zum Habsburgerreich gehörte, wurde bereits in den dreissiger Jahren des 18. Jahrhunderts gegründet. Mitte des 18. Jahrhunderts war die Freimaurerei zuerst verboten, später aber konnte sie sich (unter dem Kaiser Josef II.) vorübergehend erfreulich entwickeln. Zu dieser Zeit wurde Mozart Freimaurer in Wien. Im ganzen 19. Jahrhundert war die Freimaurerei im Kaisertum Österreich praktisch illegal. Allerdings nicht ganz. Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie in dem ungarischen Teil der Doppelmonarchie legalisiert. Es entstanden Logen, unter anderem auch in Pressburg (Bratislava–heute Hauptstadt der Slowakei, damals im ungarischen Teil der Doppelmonarchie). Es entwickelten sich Kontakte zwischen Pressburg (die Loge „Hiram zu den drei Sternen“ war besonders aktiv) und Prag. In Prag gründete man freimaurerische Zirkel, die an die Pressburger Logen angeschlossen waren. Ähnliche Zusammenarbeit funktionierte auch zwischen Prag und Logen in Deutschland. Die Pressburger Loge „Hiram“ stand dann später in der Tschechoslowakischen Republik den neu gegründeten Logen in Prag Pate.

Was war am Anfang

Der Big Bang (oder die Schöpfung) war das letzte Ereignis ohne Vorgeschichte. Nachher war alles im Fliessen und wir müssen künstlich Meilenstein aufstellen. Die Tschechoslowakische Republik (auch die erste genannt) wurdeam28.10.1918ausgerufen.Abdiesem Datum konnte man also tschechoslowakische Freimaurer-Logen gründen. Einige Brüder waren aber ungeduldig und führten Vorbereitungsarbeiten schon früher durch. Im Mai 1919 konnte man Licht in die Loge Nr. 1 einbringen. Sieheisst „Národ“ („Nation“) und sie arbeitet heute wieder, obwohl in der Zwischenzeitvielpassierte. Diese Loge wurde am Anfang von der Grossloge „Gran Loggia Nazionale Italiana“ betreut. Parallel entstand die Loge „Jan Amos Komenský“ („Comenius“), welche an „Grand Orient de France“ angeschossen war. Später wurden weitere Logen gegründet.

Unter dem Patronat der Obersten Räte von Italien und der Schweiz wurde im Mai 1922 „Der Oberste Rat des 33. Grades“ für die Tschechoslowakei gegründet. Alfons Mucha, der bereits in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Frankreich Freimaurer wurde, wurde als „Souverain Grand Commandeur du Suprême Conseil de Tchécoslovaquie“ gewählt. Er blieb im Amt bis zu der Auflösung der tschechoslowakischen Freimaurerei im Jahre 1938. Die Grossloge „Národní Veliká Lóže Československé Republiky“, („Die Nationale Grossloge der Tschechoslowakischen Republik“), wurde im Jahre 1923 etabliert. Das Licht wurde im Oktober 1923 eingebracht. Die Grossloge wurde erst 1930 von der „United Grand Lodge of England“, anerkannt – übrigens rückwirkend ab 1923.

Die 1. Tschechoslowakische Republik

Es gab in der Tschechoslowakei zwischen zwei Weltkriegen nicht nur die tschechischsprachigen (resp. slowakischsprachigen) Logen. Die Tschechoslowakeiwar damals ein multinationaler Staat, mit einer deutschsprachigen Minderheit von ca. 3 Mio. Einwohner (von ca. 15 Mio. insgesamt). Eine andere wichtige Minderheit, obwohl nicht so zahlreich, waren die Juden. Die Juden zogen als ihre erste Sprache überwiegend Deutsch vor und waren meistens Mitglieder der deutschsprachigen Logen.

Die deutschsprachigen Logen arbeiteten zuerst unter der Obedienz der Grossloge „Zur Sonne“ in Bayreuth. Bereits imOktober1920 wurde in Prag eine Grossloge mit dem Namen „Lessing zu den drei Ringen“ gegründet, welche die deutschsprachigen Logen in der Tschechoslowakei vereinigte.

Das Verhältnis der beiden Nationen – Tschechen und Deutschen – war, historisch bedingt, gespannt und nicht gerade freundlich. Dies zeigte sich auch in den Beziehungen zwischen den zwei Grosslogen. Sie waren korrekt, aber kalt. Ein Beispiel: Der Staatspräsident Edvard Beneš, auch ein Freimaurer, hielt einmal einen Bauriss in einer deutschsprachigen Loge. Das wurde von den Tschechen heftig kritisiert.

Es gab jedoch fremd- oder mehrsprachige Logen (französisch, ungarisch). Eine Loge arbeitete sogar in Esperanto. Soweit bekannt, war es bisher die einzige Loge weltweit, die in dieser Sprache je arbeitete.

Dazu kam noch die Frage der Regularität. Der „Grand Orient de France“ war nämlich auch involviert. Damit war ein Teil der Freimaurerei in der Tschechoslowakei irregulär. Hier konnten sich aber die gemischten Logen und die Frauenlogen etablieren. Die Grossloge „Veliký Orient Československý“, („Grand Orient de Tchécoslovaquie“), war aber nur von kurzer Dauer: 1931 – 1935.

Die Lagewar unübersichtlich und irgendwelche übergeordnete freimaurerische Ideale halfen nur wenig bei der Koordination. Es half erst die äussere Bedrohung. Sie kam und war sehr gross, tödlich–für alle, tschechisch oder deutsch, regulär oder irregulär. Als die Nationalsozialisten nur ein paar hundert Kilometer von Prag an die Macht kamen, erhielten die freimaurerischen Ideale für alle Brüder die höchste Priorität. Der Rest war je weiter desto unwichtiger. Diejenigen, die das erlebten, erinnerten sich später an die Zeit um 1935, als an eine goldene Zeit. Um diese Zeit gab es in der Tschechoslowakei ca. 3 000 Freimaurer. Es dauerte aber nicht lange. Anfang Oktober 1938 besetzte die deutsche Armee die tschechoslowakischen Grenzgebiete (kurz danach, im März 1939,dasganzeLand). Die Freimaurer hatten genug Informationen aus Deutschland und Österreich. Sie konnten sich gut vorstellen, was die Freimaurerei in der Tschechoslowakei erwartet und sie handelten dementsprechend. Bereits Ende Oktober 1938wurden sämtliche tschechoslowakische Logen, inklusive der Grosslogen, eingeschläfert und ihre Tätigkeit beendet. Freimaurerei wurde Privatsache. Es war ein schwerer Schlag für die tschechoslowakischen Freimaurer. Sie gehörten zu der Elite, die den Staat aufgebaut hatte. Dieser Staat hörte auf zu existieren.

Der 2. Weltkrieg

Bei einer extremen Bedrohung der Gesellschaft durch die äussere Macht, hat der Einzelne grundsätzlich drei Möglichkeiten: Erstens, und das war die Lösungder Mehrheit der Bevölkerung, heisst es, sich ins Private zurückzuziehen, unauffällig weiter zu leben, mehr oder weniger mit der herrschenden Macht zusammen zu arbeiten und bessere Zeiten abzuwarten.

Zweitens, der Bedrohung auszuweichen und die Gesellschaft zu verlassen – also ins Exil zu gehen und von aussen Aktivitäten gegen die Bedrohung zu entwickeln. Diese Variante wählten ca. 15% der Brüder. Das tschechoslowakische Exil konzentrierte sich in England. Im Mai 1941wurde die Loge „Czechoslovak Comenius in Exile Lodge“ dort gegründet, später auch die Grossloge „Czechoslovak Grand Lodge in Exile“, welche im September 1941 von der „United Grand Lodge of England“ anerkannt wurde. Gemäss einer Vereinbarung konnte die Exil-Grossloge in England auch nach dem Krieg ihre Tätigkeit fortsetzen, bis zur Erneuerung der Grossloge in der Tschechoslowakei.

Drittens, gegen die Bedrohung vor Ort zu kämpfen, Widerstand leisten. Es gab während der Okkupation zwar keinen spezifischen, von den Freimaurern organisierten Widerstand, aber die Freimaurer schlossen sich den diversen Widerstandsorganisationen an. Der Anteil der Freimaurer im Widerstand war, im Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen, sehr hoch. Sehr schwer waren die Opfer. Viele Brüder wurden inhaftiert, viele Brüder kamen im Widerstandskampf ums Leben: mehr als jeder zehnte. Die Überlebenden kamen nach dem Krieg aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern körperlich und psychisch versehrt.

Das rosarote Regime nach dem Krieg

Der Krieg war vorbei. Die Tschechoslowakei war wieder frei. Jetzt konnte man dort fortsetzen, wo man aufhören musste. Tatsächlich? Die deutschsprachigen Logen blieben leer: Nur wenige Juden überlebten den Holocaust. Fast alle Deutschen mussten im Rahmen der ethnischen Säuberungen das Land verlassen. Die Emigranten kamen zurück und fanden ein anderes Land. Alle wollten die Republikwieder so aufbauen, wie sie vordem Krieg war. Natürlich gab es Bestrebungen die

Freimaurerei bald zu erneuern. Es gab aber keine Einigkeit, wie das geschehen sollte. Die meisten tschechischsprachigen Logen aus der Vorkriegszeit wurden wieder belebt. Die tschechoslowakischen Freimaurer wurden bei dem Wiederaufbau hauptsächlich von den Brüdern aus Grossbritannien und den USA unterstützt. Die erste Generalversammlung der tschechoslowakischen Freimaurer nach dem 2. Weltkrieg fand im Mai 1946 statt. Die Kontinuität der Freimaurerei in der Tschechoslowakei wurde von der „United Grand Lodge of England“ anerkannt. Die Kommunisten beherrschten bereits in der Zeit des so genanten volksdemokratischen Regimes (1945-1948) die Schlüsselministerien und andere strategische Posten im Staat und bereiteten systematisch die Basis für das neue, totalitäre, Regime vor. Für eine legale Tätigkeit brauchten die Logen, wie vermutlich überall, eine offizielle Registrierung als Körperschaft. Es war ganz einfach von der Seite der Behörden, bei dieser Formalität Obstruktionen zu machen. Die Bewilligungen kamen erst im Juli 1947. Die Grossloge „Veliká Lóže Československé Republiky“, („Die Grossloge der Tschechoslowakischen Republik“)wurde wieder belebt. Die Arbeiten begannen im Herbst 1947. Es waren 527 Brüder registriert. Der Putsch, der die volle Machtübernahme durch die Kommunisten vollendete, wurde im Februar1948 durchgeführt. Die damalige Führung der tschechoslowakischen Freimaurer wollte die Realität lange nicht akzeptieren und probierte, auch unter dem neuen Regime, weiter zuarbeiten. Es brauchte noch weitere behördliche Obstruktionen, ja sogar persönliche Demütigungen, bis es klar wurde, dass die Freimaurerei auch in diesem totalitären Regime nicht weiter bestehen konnte. Im April 1951wurden die tschechoslowakischen Logen eingeschläfert. Zum zweiten Mal nach nicht ganz dreizehn Jahren. Sie blieben im tiefen Schlaf in den folgenden fast 40 Jahren.

Die lange Zeit der Finsternis

Nach dem Putsch im Februar1948 gab es die nächste grosse Emigrationswelle. Der Hauptstrom führte nach USA. Die Ausgangslage für die tschechoslowakischen Freimaurer war anders als während des 2. Weltkrieges. Die meisten Emigranten waren jetzt willens, sich in der Gesellschaft der Gastgeberländer zu integrieren. Die Freimaurer fanden Aufnahme in den Logen der neuen Heimat. In der Tschechoslowakei wurde die Freimaurerei insgeheim im engen Kreis weiter gepflegt. Es gab geheime Kontakte zu den Logen in England und Finnland. Im Jahre 1968 war die Tschechoslowakei in Aufruhr. Neue politische Parteien entstanden, diverse Vereine wurden gegründet. Für die Wiederaufnahme der freimaurerischen Aktivitäten gab es nicht genug Zeit. Die Hoffnung dauerte doch nur ca.7Monate. Der Prager Frühling wurde unterdrückt und es folgte eine weitere Emigrationswelle. Die Freimaurer waren kaum vertreten, denn es gab zu dieser Zeit nur wenig Freimaurer in der Tschechoslowakei und sie waren meistens bereits im höheren Alter. Im Jahre 1981 wurde in Mannheim, in der Bundesrepublik, eine tschechischsprachige Loge „T. G. Masaryk“ gegründet. Mitglieder wurden Brüder aus Deutschland und auch aus 11 anderen Ländern. Die zweite tschechischsprachige Loge in Deutschland „Zu den drei Sternen“ folgte 1985 in München. Die beiden Logen arbeiteten unter der Obedienz der Grossloge A.F.U.A.M von Deutschland. „Die Tschechoslowakische Nationale Grossloge im Exil“ wurde als Verein zwar angemeldet, von der „United Grand Lodge of England“, aus vermutlich eher politischen Gründen, jedoch nicht anerkannt.

Es werde Licht!

Die politischen Umwandlungen nach dem 17.11.1989 stellten Basis auch für die Erneuerung der Freimaurerei in der Tschechoslowakei. Die brüderliche Hilfe kam aus mehreren westeuropäischen Ländern. Auch Brüder aus der „Alpina“ waren dabei. Eine wichtige Rolle spielten die Exiltschechen.

Die Wiederbelebung der Grossloge „Veliká Lóže Československé Republiky“, („Die Grossloge der Tschechoslowakischen Republik“), wurde am 12.11.1990 gefeiert. Die Kontinuität dieser Grossloge wurde noch im Jahre 1990 von der „United Grand Lodge of England“ anerkannt. Zu dieser Zeit lebten in Prag noch 28 Brüder, die vor 1951 aufgenommen worden waren. Ähnlich wie die Grosslogen wurde auch „Der Oberste Rat des 33. Grades“ mit weltweiter Unterstützung im Jahre 1990 erneuert. Am1.1.1993 trennten sich die Tschechen und Slowaken. Aus der Tschechoslowakei entstanden zwei neue unabhängige Staaten: Tschechien und die Slowakei. „Die Grossloge der Tschechoslowakischen Republik“ wurde in die „Veliká Lóže České Republiky“, („Die Grossloge der Tschechischen Republik“), umbenannt. Im Jahre 2009 entstand die „Veliká Lóže Slovenské Republiky“, („Die Grossloge der Slowakischen Republik“). Auch der „Grand Orient de France“ war aktiv und gründete irreguläre Logen in dem „Grand Orient de Tchécoslovaquie“. Nach längeren Überlegungen entschlossen sich die fünf Logen vom „Grand Orient de Tchécoslovaquie“ für die Regularisierung; und im März 2008 fusionierten die beiden Grosslogen. Es ist vielleicht ein einmaliges Beispiel in der freimaurerischen Geschichte, dass sich diese zwei Richtungen zum Wohle der Freimaurerei trafen. 20 Jahre nach der letzten Wiederbelebung. In Tschechien existiert jetzt nur eine Grossloge: Die Grossloge „Veliká Lóže České Republiky“, („Die Grossloge der Tschechischen Republik“). Sie ist von der „United Grand Lodge of England“ anerkannt undanerkennt sich gegenseitig mit mehr als 150 regulären und anerkannten Grossloge in der ganzen Welt. Diese Grossloge vereinigt 19 reguläre Logen, die ihren Sitz ausschliesslich auf dem Gebiet der Tschechischen Republik haben. Unter ihnen gibt es fremdsprachige Logen, die auf Deutsch, Französisch oder Englisch arbeiten. Es wird geschätzt, dass es in Tschechien momentan ca. 500 Freimaurer gibt. Andere Richtungen der Freimaurerei sind in Tschechien nur unbedeutende Randerscheinungen. Bruder Jan Brousek, der neue Grossmeister in Tschechien, meint: „Wir sind organisatorisch konsolidiert und wir können uns jetzt auf die eigentliche Arbeit konzentrieren. Die Freimaurerei ist ein Bestandteil der abendländischen Kultur. Nach 1989 wollte die tschechische Gesellschaft nach Europa zurück. Heute, 20 Jahre danach, ist sie in Europa. Hat sie aber spirituell das Abendland erreicht? Daran zweifle ich. Dorthin führt noch ein langer Weg. Hier sehe ich eine besondere Aufgabe für uns. Gerade im konsequent säkularisierten Tschechien, wo die meisten Leute glauben, Atheisten zu sein.“