Die Geschichte des Tarot

Auf dem Internetwimmelt es nur so von Websites zum Tarot. Und die meisten Sites sind staunenswert, nämlich gut, sorgfältig gemacht und informativ. Nichts da von Esoterik-Blaba, spirituellem Schwulst oder gar Satanismus- Gefasel. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Man kann wochenlang im Internet herumstöbern und findet täglich neue Angaben und Behauptungen. Das Hauptproblem besteht darin, dass fast sämtlichen Informationen nur auf Englisch zu erhalten sind.

R. M. – Catena Humanitatis, Zürich (Schweizer Freimaurer-Rundschau: April 2010)

Die Geschichte des Tarot zeigt viele Parallelen zur Geschichte der Freimaurerei: Es gibt unzählige Legenden über die Entstehung. Man muss unterscheiden zwischen «gewöhnlichen» Spielkarten (manchmal «Tarock» genannt) und Tarot so wie zwischen blauer Freimaurerei und den Hochgraden.

Zuerst waren die Spielkarten, wie wir sie alle kennen; das entspricht der blauen Maurerei; erst später kamen die Tarotkarten (also das bisherige Spiel plus 22 zusätzliche, und zwar «höhere» Karten), entsprechend den maurerischen Hochgraden. Für die Legendenbildung sind Freimaurer und Pseudo-Freimaurer gleichermassen verantwortlich. Als Herkunft des Tarot werden z. B. genannt: die Höhlenbewohner und Atlantis, Ägypten, Indien und Marokko, Kabbala und Alchemie, Zigeuner und katholische Kardinäle.

Seit 1300 in Europa: Die Spielkarten. Einigermassen gesichert ist, dass die gewöhnlichen Spielkarten aus dem alten China stammen. Sie sollenum750 erfunden worden sein. Es handelte sich vermutlich um schmale Papierstreifen, auf denen mit Punkten die 21 Möglichkeiten eines Spiels mit zwei Würfeln aufgezeichnet waren, ähnlich dem Domino. Diese Karten kamen vermutlich um 1300 über die islamischeWelt – Indien, Persien und Ägypten – nach Europa. Sie wurden beim Volk rasch so beliebt, dass die Obrigkeit das Kartenspielen sofort verbot. Solche Verbote sind bekannt in der Schweiz und Deutschland, in Frankreich, Italien und Spanien, Belgien und Holland. Der Hl. Bernhard von Siena soll 1423 in Bologna in einer flammenden Predigt die Spielkarten als «Erfindung des Teufels» bezeichnet und seine Anhänger sollen die Karten ins Feuer geworfen haben.

Trotz allem wurde weiter mit Karten gespielt. Auch an Fürstenhöfen. Und offenbar waren manchen Potentaten, besonders in Mailand (am Hof der Visconti) und Ferrara (am Hof der Este), die gewöhnlichen Spielkarten zu wenig interessant. So wurden, etwa in der Zeit von 1400- 1440 zweiundzwanzig sogenannte Trumpfkarten hinzugefügt, also Karten die eine höhere Stichkraft hatten. Diese «höheren » Karten werden oft «trionfi» genannt, das ganzeKartenset von56plus 22 Karten als «tarocchi» bezeichnet. Nach neuesten Forschungen könnten dieseKarten imersten Jahrzehnt in Bologna (ebenfalls am Hof der Visconti) entstanden sein.

Die 22 zusätzlichen Karten bezeichnen wir heute als die «grossen Arkana». Warum es gerade 22 sind und weshalb sie gerade die bekannten Motive zeigen und erst noch in einer bestimmten Reihenfolge stehen, ist umstritten. Dabei ist zu bemerken, dass die Motive nicht von Anfang an den heute als «klassisch» bezeichneten entsprechen. So zeigt etwa das «Michelino-Deck» 16 griechische Gottheiten und die Farben sind Vögel. Der «Mantegna-Tarot» zeigt unter anderem die neun Musen, die sieben Tugenden, die sieben Freien Künste und die sieben Planeten. Der «Sola-Busca-Tarot» zeigt historische Persönlichkeiten aus dem alten Rom sowie die babylonischen Herrscher Nimrod und Nebukadnezar. Bei den Rosenwald Holzschnitten sind Kentauren und weibliche Knappen auffällig. Aus der frühen Zeit des Tarot sind einige fast vollständige Spiele, «Decks» genannt, erhalten, dazu viele einzelne Karten. Sie sind mit den Namen Visconti und Sforza verbunden, aber auch mit dem Namen reicher Sammler wie den Bankiers Edmond de Rothschild und John Pierpont Morgan. Manche dieser Karten sind Unikate, das heisst, von Hand gemalt und daher ausserordentlich kostbar. Daneben gab es schon früh auch gedruckte Karten. Interessant ist, dass zur selben Zeit, also im 15. Jahrhundert an andern Orten auch einige andere Kartenspiele entstanden, beispielsweise in Venedig das «Imperatori »-Spiel und mit ihm verwandt in Deutschland und in der Schweiz der Karnöffel und das Kaiserspiel. In Wien entstand das Hofämterspiel. Das waren alles ausserordentlich beliebte Spiele. Der sogenannte «Tarot de Marseille» ist um 1500 in Südfrankreich entstanden. Die heute bekannte Version wurde jedoch erst 1760 gedruckt.

EineErklärung für dieAnzahl 22der Grossen Arkana könnte sein: Das hebräische Alphabet hat 22Buchstaben, und im kabbalistischen Lebensbaum gibt es 22 «Pfade der Weisheit». Weiter wird behauptet, es gebe 22 Bücher des Alten Testaments, ebenso viele Schöpfungstaten Gottes und Tugenden Christi. Eine andere Erklärung geht vom Würfelspiel aus, das zu allen Zeiten praktiziert wurde. Mit zwei Würfeln ergeben sich 21 Möglichkeiten – vielleicht hat der «Narr» daher im Tarot keine Nummer.

Für die bekannten Motive, beispielsweise des «Tarot de Marseille», gibt es mehrere Erklärungsversuche aus jüngerer Zeit, die sich auf die Bezeichnung «trionfi» stützen. Eine davon geht auf den grossen Dichter Petrarca zurück. Er hat nach der grossen Pest von 1348 seine grosse Liebe zu der idealisierten Laura mehrmals (bis zu seinem Tod 1374) in ein Gedicht zu fassen versucht, das er «Trionfi» nannte. Immerhin 13 Motive können auf dieses Gedicht zurückgeführt werden. Eineweitere Erklärung bezieht sich auf religiöse Prozessionen oder Karnevalszüge, die um diese Zeit in Mode waren. Dabei wurden auf grossen Wagen, in teilweise kühnen mechanischen Konstruktionen, Darstellungen von Tugenden, kirchlichen Themen, menschlichen Eigenschaften und weiterer Themen aufgebaut. Im Ganzen ging es stets um den Sieg, genauer, das «Schweben» des Guten über das Böse. In den Mysterienspielen oder volkstümlichen Theateraufführungen dieser Zeit wurde der Ablauf des menschlichen Lebens dargestellt: Geburt, Reife, Todund Erlösung. Diese Aufführungen fanden nicht nur in der Kirche, sondern auch im Freien als streng komponierte «Triumphzüge » statt, beginnend mit der Schöpfung der Welt und endend beim Jüngsten Gericht. Es waren richtige Spektakel mit feuerspeienden Teufeln und Spielern, die mit Kranen aufwärts und heruntergefahren wurden. Ebenfalls zur selben Zeit entstand der sogenannte «Totentanz», den wir als Bildzyklus kennen. Er zeigt Vertreter aller Volksschichten – vom Bettler, Narren und dem Eremiten bis zum Herrscher und Papst, die von einem Tod in Gestalt eines Knochengerippes aus dieser Welt abgeholt wurden. Darüber hinaus gibt es einige extreme Behauptungen wie: Die Motive sind zufällig aus dem riesigen Schatz an bildlichen Vorstellungen der damaligen Zeit herausgegriffen. So kommen von den sieben Tugenden im Tarot nur drei vor, von den sieben Planeten nur zwei und ein Stern.

Was die Reihenfolge betrifft, so gibt es die Behauptung, sie sei rein zufällig, aber ebenso die gegenteilige, dass der Tarot die Geschichte der apokalyptischen Prophezeiung im biblischen Buch der Offenbarung beschreibe. Ferner wird die Reihenfolge mit den Zahlenwerten des hebräischen Alphabets und der Zahlentheorie von Pythagoras in Zusammenhang gebracht. Auffällig ist jedenfalls die Gruppierung: Im ersten Drittel eine Art soziale Hierarchie; im zweiten Drittel Allegorien des Lebens, wie Liebe, Erfolg, Aufstieg und Abstieg; im dritten Drittel die christliche Eschatologie mit Teufel und Engel (Jüngstem Gericht) und der Überwindung des Todes. Es gibt jedoch auch die extreme Behauptung, die Reihenfolge sei völlig falsch. Beispielsweise müsste die Welt statt am Schluss an der Stelle des Magiers am Anfang stehen. Interessant ist freilich, dass die Reihenfolge der Karten – mit kleinen Abweichungen – vonAnfang an (1470) über die Jahrhunderte konstant ist. Regeln für das Kartenspiel, speziell das französische Tarock, sind erst seit 1637 erhalten.

Ab 1750: Die Deutung der Tarotkarten

Ob die Spielkarten und Tarotkarten in der Renaissance und Barockzeit zum Wahrsagen benutzt wurden, ist umstritten. Es gibt allerdings einige Hinweise darauf. Auch etwa zur Charakteranalyse konnten die Karten verwendet werden. Merkwürdigerweise taucht die symbolische Deutung der Tarotkarten, wie wir sie heute kennen, auf dem Höhepunkt der Aufklärungszeit auf, und das heisst auch, genau zur Zeit der Entstehung der maurerischen Hochgrade. Und gleichzeitig blühen auch die Legenden über die Herkunft des Tarot – wie auch der Freimaurerei. Es ist also kein Wunder, dass es Freimaurer und schräge Figuren aus dem Umfeld der Freimaurerei waren, welche versuchten, den esoterischen

Gehalt des Tarot auszuschöpfen. Die bekanntesten Namen um 1780 sind Antoine Court de Gébelin und Etteilla. Court de Gébelin war der Theoretiker, Etteilla der Praktiker. Court de Gébelin deutet die Symbole des Marseiller Tarots als Zeichen der Mysterien der ägyptischen Gottheiten Isis und Thot; er sieht den Tarot als «Königlichen Weg» zur Weisheit resp. «Königlichen Weg des Lebens». Er ordnete den 22 grossen Arkana die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets zu.

Etteilla, der schon lange Zeit die Menschen als Kartenleser beglückt hatte, führteden Tarot auf einen Plan des legendären Hermes Trismegistos zurück. Und er verbindet bereits kabbalistische Ideen mit dem Tarot. 70 Jahre später war es dann der Kurzzeit-Freimaurer Eliphas Lévi, welcher Etteilla heftig kritisierte, jedoch den Zusammenhang des Tarot mit Hermes Trismegistosund der Kabbala differenziert ausbaute. Nach Lévi ist der Tarot nicht mehr allgemein der Weg der Erkenntnis, sondern vielmehr der «Weg der Selbsterkenntnis». Bald darauf wurde der Tarot auch mit der Astrologie in Verbindung gebracht. Nach Paul Christian findet die Planetensymbolik ihren Niederschlag in den Symbolen der Tarotkarten.

Ende des 19. Jahrhunderts, in der Zeit von 1889-1909 gab es einen Schub von neuen Tarot-Decks. Bislangwar der sogenannte Marseiller Tarot der am meisten gebrauchte und gedeutete Tarot gewesen. Nun begannen plötzlich zahlreiche Esoteriker, eigene Tarot-Decks zu entwerfen. Massgeblich verantwortlich für diesen Schub war der Orden vom«Golden Dawn», welcher 1888 von drei Freimaurern gegründet wurde. Schon 1889 gab der Schweizer Symbolforscher und Freimaurer Oswald Wirth einTarot-Deckheraus. Er wurde dabei angeleitet von seinem Mentor Stanislas de Guaita, einem Schüler von Eliphas Lévi und Gründer des modernen Martinistenordens.

Im selben Jahr gab der Leiter des Martinistenordens – und Möchtegern-Freimaurer – Papus «Le Tarot des Bohémiens», also der Zigeuner, heraus. Etwa zur selben Zeit skizzierte der Freimaurer und Mitbegründer des Golden Dawn, S. L. McGregor Mathers, in seinen Notizbüchern einen Tarot, der jedoch erst fünfzig Jahre später (1937) vomChronistendes Golden Dawn, Israel Regardie, aufgegriffen und 1970 als «Golden Dawn Tarot» veröffentlicht wurde.

1896 veröffentlichte René Falconnier in einem Buch die Zeichnungen eines ägyptischen Tarot von Maurice Otto Wegener nach Ideen von Paul Christian (1870). 1909 gab Papus einen weiteren Tarot heraus (Der Tarot der Weissagung). Im selben Jahr beauftragte Arthur Edward Waite, Mitglied des Golden Dawn und Freimaurer, die amerikanische Künstlerin Pamela Colman Smith 78 Karten nach seinen Ideen zu illustrieren. Das Deck erschien im Verlag Rider & Son, London, daher wird es meist «Rider-Waite-Tarot» genannt. Es wurde bald darauf (1931) vomFreimaurer Paul Foster Case «verbessert ». Innerhalb von 20 Jahren sind also sechs wichtige Tarot-Decks entstanden oder wenigsten konzipiert worden.

Der Tarot wird populär

Später (1927) veröffentlichte Oswald Wirth einen eigenen Tarot, und noch viel später (1937) veranlasste Aleister Crowley – Mitglied des Golden Dawn und einer irregulären Freimaurerloge – Frieda Harris zur Illustration der Grossen Arkana. Dieser «Thoth Tarot» oder «Crowley-Harris-Tarot» wurde allerdings erst 1969 als Deck veröffentlicht.

Das heutige Interesse am Tarot wird auf die Hippies der Jahre nach 1965 zurückgeführt. Seither wuchern die Deutungen wie wild und es werden immer neue Tarotdecks auf den Markt geworfen, besonders viele feministische, aber auch prähistorische und biblische. Ein freimaurerischer Tarot wurde 1987 von Jean Bauchard gestaltet. Es gibt auch einen Tarot «James Bond 007», einen Tarot von Salvador Dali, Tarot mit Abbildungen von rauchenden Menschen, von Pfeifenköpfen, Blumen, Musikinstrumenten. Im Unterschied zur Freimaurerei macht also der Tarot im 21. Jahrhundert Furore. Das müsste uns zu denken geben. Vielleicht weist uns der Tarot einen Weg zur Wiederbelebung der Freimaurerei.