Die Freimaurerei als Lebensschule

Schule ist ein Ort, an dem Wissen vermittelt und aufgenommen wird

Auf die Freimaurerei bezogen ist der Ort des Lernens in erster Linie der Tempel. Der Lernprozess erstreckt sich, da es sich hier nicht allein um verstandesmässiges Aneignen von Wissen, sondern vielmehr um die Wesens-Bildung des Schülers handelt, über sein ganzes Leben. Das ist die Quintessenz aus vier verschiedenen Vorstellungen von Brüdern der Loge Bauplan, die nun hier zusammengefasst werden.

A. F. (Schweizer Freimaurer-Rundschau: März 2004)

Vor dem Eintritt in die «erste Klasse» wird der Schüler in eine dunkle Kammer gebracht, wo er angesichts des Todes in stillem Nachdenken verharrt. Hier soll ihm klar werden, dass Bildung nicht allein durch den rationalen Verstand bewirkt wird, sondern vielmehr durch ganzheitliches Erleben. In zweiter Linie besteht die Arbeit des Schülers in eifriger Mitarbeit in den Konferenzen, wo sich zu den Arbeiten in kühler Logik die Esoterik gesellt.

Symbole als Schulmittel

Die Wurzeln der Freimaurerei sind nicht verlässlich auszumachen und reichen geistesgeschichtlich viel weiter zurück, als angenommen wird. Ungezählte Legenden ranken sich um die Ursprünge und die Geschichte des Ordens. Erklärungen organischer Nachfolgerschaft des Tempelordens, der römischen, griechischen, ägyptischen Mysterienbünde sind nicht ernst zu nehmen – wenngleich sich viele ihrer Erkenntnisse in unseren Symbolen widerspiegeln.

Im sechsten vorchristlichen Jahrhundert gründete Pythagoras, ein Eingeweihter der Thot-Mysterien, (der ägyptische Gott Thot soll schon vor etwa fünftausend Jahren 42 Bände geschrieben haben, die alle Weisheit der Welt enthalten) in Kroton, in Süditalien, einen eigenen ionisch-griechischen Geheimorden mit hierarchischem Aufbau und einem inneren Kern aus Initiierten, die in den grosse Mysterien unterrichtet wurden.

Symbolik ist ein ganz wesentlicher Teil der Freimaurerei. Archetypen rühren an das Unbewusste des Schülers und stellen für ihn die Verbindung her vom Punkt zum Kreis, vom Inneren zum Äusseren, vom Geist zum Verstand – und umgekehrt. Symbole lassen eine geistige Filiation erahnen und vermitteln inhaltliche Inspirationen. Suchet und ihr werdet finden: Das Geheimnis der Freimaurerei lebt in des einzelnen Brust!

Reflexionen

Die (Selbst-) Prüfungen finden im täglichen Leben des Maurers statt. Da der einzelne Bruder im Gedanken- und Arbeitsgebäude unseres Bundes verschiedene Bausteine findet, die für sein persönliches Denken und Leben eine spezifische Bedeutung haben und dieses entsprechend prägen, kann auch nur er selber die Qualifikation seiner Entwicklung ermessen. Reflexionen über das eigene Handeln im täglichen Leben und über die Bedeutung der eigenen Person im Rahmen der ganzen Gemeinschaft zeigen ihm den Fortschritt.

Und wieder sind es Symbole, die als Gradmesser und Impulsgeber zugleich dienen: der raue Stein, in kubische Form gebracht, und der Tempel zu dessen Vollendung und Schönheit der erstere gebraucht wird. «Erwäge immer den wahren Beweggrund Deiner Handlungen und Du wirst mit Verwunderung sehen, wie weit Du noch von der Tugend entfernt bist». Es obliegt jedem Einzelnen, diesen Aufruf überhaupt wahrzunehmen und dann mit konkreten Inhalten zu füllen.

Hindernisse

Wer aus der Freimaurerei etwas für das Leben lernen will, tut sich schwer, wenn er nur zuhört oder sich in die Literatur einliest. Seine «private Logik» wird ihm stets nur das vermitteln, was er vorher schon wusste. – Normalerweise. Freimaurerische Lehre durch Symbole und Ritual ist eine vorzügliche Methode, die aber nur dann zum Erfolg führt, wenn der Kandidat offen und bereit ist und sich vom Dargebotenen tiefgehend berühren lässt. Aber es kommt vor allem auch auf diejenigen an, welche (wie gesagt wird) im Lichte stehen, ob sie aus innerster Überzeugung diese Handlungen übernehmen wollen. Vorbereitung und Nachsorge im Umgang mit dem Kandidaten müssen ein ebensolches Gewicht erhalten. Das Loslassen des «alten» Menschen ist gefordert, um zu neuer Autonomie zu gelangen.

Freimaurerei muss sich in tief greifender Weise abheben von gesellschaftlichen Klubs – muss bescheidener werden – wenn sie sich als Lebensschule anbietet und will, dass die gewünschten Initiations- und Individuationsprozesse glücken sollen! Das Forschungsziel in der okkulten Wissenschaft der Freimaurerei ist die wahre Natur des Menschen.

Utopien und Symbole

Utopien sind Schilderungen eines erdachten oder erhofften Idealzustandes der menschlichen Gesellschaft. Modell-Gedanken – Denk-Modelle – die einen Entwicklungstrend eines Volkes, einer Gesellschaftsgruppe, einer Gemeinschaft vorgeben oder zumindest einleiten.

Wir können hier an die Gründer der grossen Weltreligionen, wie Moses, Buddha, Jesus und Mohammed denken – oder etwas näher – an Jules Vernes Romane – oder noch näher an Jean Gebsers «Integrales Denken» oder auch an K. O. Schmidts «Aus der Sicht des Wassermann- Zeitalters» und viele andere. (An dieser Stelle sei auch auf die grossartige Arbeit von Peter Zollikofer in der Alpina Nr. 10/2002 «Freimaurerei im Paradigmenwechsel» verwiesen).

Wie viele Bücher müssen wir noch lesen – wenn wir sie finden – um unseren Blick über den eigenen Zaun der «gestrigen Welt» hinaus zu wagen? Hinaus in die Grösse, die Schönheit, die Einheit der Menschheit und der Schöpfung! Und wie viel einfacher ist es doch, über ein paar maurerische Symbole zu kontemplieren, zu meditieren.

Der Stein

Unser hauptsächlichstes Symbol ist der Stein. Sollen wir wirklich nur seine äussere Form bearbeiten? Oder gibt es da noch eine andere Version? Im Hebräischen wird der «Stein» ABeN geschrieben, eine Zusammenfügung von AB (Vater) und BeN (Sohn), was bedeutet: «Ich und der Vater sind eins» oder «Gott und Mensch (die Menschheit) sind eine Einheit». Das sollte ja nun schon reichen, um den Faden weiter zu spinnen. Unsere Rituale sind voll von tiefer Symbolik, die aber hier nicht im Einzelnen dargelegt werden können.

Eine Analogie

Man könnte sich eine Seele oder Wesenheit – nur der Analogie willen – als einen bewussten, lebendigen, göttlich inspirierten Computer denken, der seine eigenen Existenzen und Lebenszeiten programmiert. Aber dieser Computer ist schöpferisch so hochbegabt, dass alle die vielfältigen Persönlichkeiten, die er entwirft, ins Bewusstsein – ins Leben – treten und ihrerseits wiederum Realitäten schaffen, die sich der Computer selber nicht hätte träumen lassen. Die Seele, oder Wesenheit, geniesst völlige Freiheit, muss sich aber in den Rahmen der Existenz, auf die sie programmiert wurde, einpassen. In den geheimsten Tiefen der Persönlichkeit ist jedoch in konzentrierter Form das gesamte Wissen lebendig, das in dem Computer als ganzem wohnt.

Die Spirale

In dieser Hinsicht ist die Spirale eines der umfassendsten Symbole. Wie keine andere Darstellung zeigt sie uns den Schöpfungsverlauf – vom nicht existenten Punkt der Einheit in die Dualität. Mit dem «Es werde Licht» wurde automatisch auch die Dunkelheit hervorgebracht. Die Spirale, dargestellt als eine gekrümmte helle und eine ebensolche dunkle Linie, führt uns aus der Einheit weg, über die Dualität in eine unvorstellbare Vielheit und Lichtferne und um ein weiteres Mal die Bibel zu zitieren – hinaus in die «äusserste Finsternis, wo Heulen und Zähneknirschen herrscht.»

Seinem freien Willen obliegt es – ob und wann – er auf seinem Computer den Suchbegriff «Rückkehr» anklicken will. Jeder kennt ja die Parabel vom «Verlorenen Sohn.»

Zeitlose Aspekte

Der Freimaurerbund besitzt Rituale und Symbole, die in ihrem zeitlos gültigen Aspekt für die Brüder – bei richtigem Gebrauch – eine entscheidende und umfassende Lebenshilfe darstellen. Freimaurerei ist primär keine fest umrissene Lehre, sondern eine Methode, ein «nachzugehender Weg» mit einer notwendigen Bandbreite, die dem einzelnen Bruder – den seinen individuellen Voraussetzungen entsprechenden Spielraum – gestattet.

Wir können Freimaurerei auch als meditative Technik anhand vorgegebener Rituale und Symbole bezeichnen. Sie soll die Eingeweihten zu geistig-seelischer Vertiefung, zur Bewusstseinserweiterung und zu fruchtbar schöpferischer Tat zum Wohle der ganzen Schöpfung dienen. – So gestaltet sich die Freimaurerei zur Lebensschule.