«Vertriebene sind wir, Verbannte»
Wer sich in einer Diktatur wiederfindet, hat es nicht leicht, die Lage einzuschätzen. Und es stellt sich die Frage: Was tun? Eine Möglichkeit, das Exil, ergriffen ab 1933 unter dem Nazi-Regime deutsche und in den Folgejahren auch Brüder anderer, «gleichgeschalteter » Länder. Es ging um das persönliche Schicksal, aber auch um jenes der freimaurerischen Idee.
Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl sprach von der «Gnade der späten Geburt»: Die nach 1930 geborenen Bürger würden im Hinblick auf das Dritte Reich keine Schuld tragen. Dieses dunkle Kapitel erscheint heute manchem weit entfernt. Wer allerdings davon spricht, wie er sich unter dem Nazi-Regime verhalten hätte, spekuliert. Es musste weit schwieriger gewesen sein, seine Position zu finden – und zu verantworten.
Bleiben oder gehen?
Ab 1933 gab es grob skizziert vier Möglichkeiten. Man macht mehr oder minder aktiv mit. Man bleibt und hält sich bedeckt. Man geht in den Widerstand. Oder man begibt sich ins Exil. Die Zeichen der Zeit richtig zu deuten wäre die Voraussetzung für einen Entscheid. Doch nicht jeder hat die Weitsicht des deutschen Dichters Heinrich Heine (1797–1856), der sagte: «(…) dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.» Nicht jeder sieht der Gefahr ins Auge, auch wenn zwei Monate nach Hitlers Machtergreifung, im März 1933, in Dachau unweit von München das erste Konzentrationslager eingerichtet wird und Gesinnungsbrüder dorthin verschwinden.
Auch deutschen Freimaurern konnte es schwerfallen, die Zeichen der Zeit zu deuten.
So existentiell der Entscheid für Bleiben oder Gehen war, so heftig war die Polemik zwischen den entsprechenden Gruppen. Das zeigte sich beispielhaft bei den deutschen Literaten. Die einen, ganz prominent Thomas Mann (1875– 1955), gingen ins Exil. Die anderen blieben und traten, so eine Formulierung Manns, die «innere Emigration» an. 1945 kam es zum Schlagabtausch. Der deutsche Schriftsteller Frank Thiess (1890–1977) hatte sich fürs Bleiben entschieden. Sein Beweggrund: «(…) falls es mir gelänge, diese schauerliche Epoche zu überstehen, würde ich dadurch derart viel für meine geistige und menschliche Entwicklung gewonnen haben, dass ich reicher an Wissen und Erleben daraus hervorginge, als wenn ich aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zuschaute.” Manns Replik: Die Gebliebenen seien «Ofenhocker des Unglücks».
Einzelschicksale
Auch deutschen Freimaurern konnte es schwerfallen, die Zeichen der Zeit zu deuten (sh. den Artikel „Dunkle Zeiten – und ein Vergissmeinnicht»). Es gab Brüder, die blieben. Zu diesen zählen der SPD-Politiker und Widerstandskämpfer Julius Leber (1891–1945), der nach KZ-Haft zum inneren Kreis um den Grafen von Stauffenberg gehörte und von diesem als Innenminister nach dem Putsch vom 20. Juli 1944 vorgesehen war. Er wurde ebenso hingerichtet wie Wilhelm Leuschner (1890–1944), Gewerkschafter und hessischer Innenminister, den sich Stauffenberg gar als nächsten Kanzler vorstellte.
Dann gab es Freimaurer, die gingen. Der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890–1935) floh im Jahr 1934 nach Schweden, wo er schwerkrank und depressiv starb ob wie andere Exilanten infolge eines Suizids, bleibt offen. In Österreich hatte der Journalist Eugen Lenhoff (1891– 1944) hohe maurerische Ämter inne. Er war er 1923– 1933 Chefredakteur der «Wiener Freimaurerzeitung» und machte aus dem Vereinsblatt eine international anerkannte Fachzeitung. Zusammen mit Oskar Posner publizierte er 1932 das «Internationale Freimaurerlexikon» – ein Werk, das noch heute erhältlich und von grossem Wert ist. Lenhoff zog sich 1933 aus der Freimaurerei zurück. Der Anschluss Österreichs im März 1938 zwang ihn wegen seines Hintergrunds als Freimaurer und Publizist zur Flucht. Im englischen Exil ging es ihm darum, der Öffentlichkeit die NS-Diktatur vor Augen zu führen. 1944 starb er und geriet, im Gegensatz zu seinen Büchern, in Vergessenheit.
Als die Deutschen 1939 in der Tschechoslowakei einmarschierten, hatten sie eine Liste von viertausend Brüdern bei sich.
In die Diaspora
Die deutsche Expansionspolitik führte dazu, dass ein Exilland nach dem anderen aufgegeben werden musste. Als die Deutschen 1939 in der Tschechoslowakei einmarschierten, hatten sie eine Liste von viertausend Brüdern bei sich. Diese wurden umgehend verhaftet. 1940 waren Frankreich und die Niederlande an der Reihe. Es entstanden grosse jüdische Exilgemeinden u. a. in Istanbul, Sao Paulo, New York, Shanghai und Israel. Mancher jüdische Freimaurer dürfte diesen Weg gegangen sein. Männer aus Kultur und Wissenschaft, unter ihnen wohl auch namentlich nicht mehr bekannte Brüder, flüchteten u. a. nach Stockholm, Zürich und Mexiko. Es kam bei einzelnen Exilanten zu einer wahren Odyssee. So verlief der Weg Bertolt Brechts (1898–1956) zwischen 1933 und 1941 von Deutschland über die Tschechoslwakei, die Schweiz, Frankreich und Dänemark in die USA. In seinem Gedicht «Über die Bezeichnung Emigranten» heisst es: «Vertriebene sind wir, Verbannte.»
Die Lebensumstände der Exilanten waren in der Regel hart. Sprache und Kultur ihres Exillands waren ihnen oft fremd. Verdienstmöglichkeiten gab es kaum. Sie waren entwurzelt und isoliert, und das Schicksal der in der Heimat Gebliebenen war ebenso ungewiss wie das eigene. Im Film «Casablanca» hat der Regisseur Michael Curtiz 1942 diesen Menschen ein Denkmal gesetzt. Eine Meisterleistung vollbrachte der deutsche Bruder Leo Müffelmann (1881–1934). Er gründete 1930 die «Symbolische Grossloge von Deutschland » und wurde deren Grossmeister. 1931 entstand aus dieser in Jerusalem eine weitere Loge, «Zur Quelle Siloah». 1932 umfasste die «Symbolische Grossloge » 26 Bauhütten mit 1200 Brüdern. Müffelmann liess nach Hitlers Machtergreifung diese Bauhütten schliessen und gründete in Jerusalem die «Symbolische Grossloge von Deutschland im Exil». Im November 1933 fand die feierliche Konstitution statt. Im chilenischen Valparaiso entstand 1935 aus der «Grossen Loge von Hamburg» eine weitere Auslands-Grossloge. Im Juni 1949 wurde aus beiden Exil-Grosslogen die «Vereinigte Grossloge von Deutschland » gegründet. Müffelmann erlebte das nicht mehr. 1934 war er an den Folgen seiner KZ-Haft verstorben. T. M.