Unterwegs, den Tod zu verstehen
Seit es Menschen gibt, müssen sie sich mit dem Tod auseinandersetzen. Wie bei allen letzten Dingen kann es auch hier nicht darum gehen, abschliessende Definitionen zu formulieren. Aber man kann sich diesem Phänomen u. a. philosophisch annähern. Für den Freimaurer bedeutet das, von jeglichem Dogma abzusehen und sich Rechenschaft darüber abzulegen, was an früheren und heutigen Denkleistungen vorliegt.
Von Br∴ R. K., L∴ Modestia cum Libertate i∴ O∴ Zürich
Der Begriff Metaphysik entstammt dem Gesamtwerk des Aristoteles. Sie ist die Disziplin der Philosophie, welche die Fundamente, Voraussetzungen, Ursachen bzw. die ersten Begründungen der allgemeinsten Strukturen, Gesetzlichkeiten und Prinzipien von Sinn und Zweck der Realität beschreibt. Die klassische Metaphysik stellt sog. letzte Fragen. Gibt es einen letzten Sinn, warum die Welt überhaupt existiert? Und dafür, dass sie gerade so eingerichtet ist, wie sie es ist? Gibt es einen Gott bzw. Götter, und wenn ja, was können wir darüber wissen? Was macht das Wesen des Menschen aus? Gibt es grundlegende Unterschiede zwischen Geist und Materie? Besitzt der Mensch eine unsterbliche Seele? Verfügt er über einen freien Willen? Verändert sich alles, oder gibt es auch Dinge und Zusammenhänge, die bei allem Wechsel der Erscheinungen immer gleich bleiben?
Das Leben ergründen
Wir Freimaurer stellen ebenfalls solche Fragen. Diese sind der Grund, weshalb die Königliche Kunst nicht ohne einen transzendenten Bezug auskommen kann. In ihrem sittlichen Bewusstsein erkennen die Brüder ein göttliches Wirken voller Weisheit, Schönheit und Stärke, das wir im Symbol des Allmächtigen Baumeisters aller Welten verehren. Wir können uns allerdings hier und heute nicht des Eindrucks erwehren, dass zunehmend (heimliche?) Agnostiker und Atheisten den Weg in unsere Bauhütten finden. Der menschliche Tod erscheint vielen nicht mehr als Geheimnis mit einer geistigen Dimension jenseits des Materiellen, sondern als das Ende von Leistung und Konsum. Gegebenenfalls werden wir, dem Zeitgeist gehorchend, die alten Pflichten des schottischen Presbyters James Anderson überdenken müssen.
Alles, was ist, scheint durch sinnhafte Bezüge strukturiert.
Der Tod ist das endgültige Ende der körperlich-organischen und der aktiven, physisch feststellbaren geistigen Existenz eines Lebewesens. Gegenstand der vorliegenden Zeichnung ist nicht diese naturwissenschaftliche Interpretation des Seins, sondern im Sinne eines undogmatischen und daher maurerischen Denkens die Frage nach dem Sinn des Seins. Wie wollen wir den Tod zu verstehen versuchen, wenn wir das Leben nicht ergründen? Der Freimaurer stellt die Frage nach dem Sein als Frage nach dem, was ist. Das Sein besitzt trotz seiner Mannigfaltigkeit eine gewisse Einheitlichkeit. Alles, was ist, scheint durch sinnhafte Bezüge strukturiert.
Geist und Materie in Wechselwirkung
Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Es geht um die Suche nach dem Sinn des Lebens, um die Erkenntnis: kein Leben ohne Tod, kein Tod ohne Leben. Hier hilft uns die Metaphysik eines grossen Denkers des 17. Jh. weiter: Descartes ist der Begründer des modernen Rationalismus, den insbesondere de Spinoza und Leibniz weitergeführt haben. Die Abkehr von Erkenntnisquellen wie Empirie oder religiöser Offenbarung und Überlieferung kennzeichnen den Cartesianismus. Von Descartes stammt der berühmte Ausspruch «cogito ergo sum» (Ich denke, also bin ich). Dieses Diktum ist die Grundlage seines methodischen Zweifels, d. h. nur das ist richtig, was durch die eigene Analyse und logische Reflexion als plausibel verifiziert werden kann. Die kritische Denkweise der Königlichen Kunst über das Leben und dessen Auflösung im Tod sind der cartesianischen Auffassung bezüglich der Existenz zweier miteinander wechselwirkender, voneinander verschiedener Substanzen – Geist und Materie – ja nicht fremd.
Aus diesem Dualismus entstand die Erkenntnistheorie des Begründers des für den Freimaurer so wichtigen kategorischen Imperativs: Immanuel Kant.
Kant stellt die Frage: «Was kann ich wissen?» und sucht nach der wahren Einsicht in die letzten Erkenntnisse. In seiner «Kritik der reinen Vernunft» formuliert er seine Erkenntnistheorie als Fundament einer Metaphysik zur Erklärung der Welt jenseits unserer Erfahrung, insbesondere in der Phänomenologie des Todes. Somit kann der Ursprung der Erkenntnisgewinnung nur in den unmittelbar gegebenen Erscheinungen, z. B. des Sterbens, gesehen werden. Daraus folgt, dass Einsicht ohne sinnliche Anschauung, d. h. ohne Wahrnehmung, nicht möglich sein kann. Kant klärt uns auf, indem er geltend macht, dass vernunftbegabte Wesen und damit alle Menschen ihre Handlungen darauf zu prüfen haben, ob sie einer für alle, jederzeit und ohne Ausnahme geltenden Maxime folgen. Dabei soll das Recht aller betroffenen Menschen – als Selbstzweck, also nicht als blosses Mittel zu einem anderen Zweck – berücksichtigt werden.
Die Sonderrolle des Menschen
Fast axiomatisch und in Konsequenz der erkenntnistheoretischen Philosophie soll nun der moderne Existenzialismus analysiert werden. Existenzphilosophie bezeichnet eine Denkschule in der Mitte des 20. Jh, die das Dasein des Menschen in die reale, eben in die existierende Welt stellt. Sie greift fundamentale Themata auf, die unmittelbar zur menschlichen Erfahrung gehören, exempli gratia Angst, Tod, Fremdheit, Freiheit. Der wichtigste Vertreter war der französischen Denker Jean-Paul Sartre. Für ihn hält der Mensch eine Sonderrolle inne, weil er sich als einziges Lebewesen seiner Existenz bewusst ist. Sartre betont dabei die Freiheit des Individuums, selbst über sein Leben und sein Handeln bestimmen zu können, und erklärt, warum der homo sapiens, sapientiae causa, zur Freiheit verdammt ist. Seines Erachtens wurden wir in eine Welt ohne Sinn hineingeboren. Und just hier greift – existenzphilosophisch gedacht – die Freimaurerei ein. Warum? Die Königliche Kunst gewinnt aus der Konzentration auf die gelebte Praxis nicht nur einen sinnstiftenden, sondern insbesondere auch einen interkulturellen Aspekt. Nicht die Formulierung einer Theorie kann demgemäss die Grundlage des freimaurerischen Humanismus sein, sondern die wertende Betrachtung der Handlungen der Menschen.
En guise de synthèse schliesse ich diese Metaphysik mit der Einsicht des Meisters der literarischen Lakonie, Ernest Miller Hemingway, in seinem Essay «Death in the Afternoon» (Tod am Nachmittag): Der Tod? Die einzige sichere Erkenntnis!