«Stirb und werde»
Freimaurerei und Alchimie werden oft miteinander in Verbindung gebracht. Im Zentrum steht meist das Prinzip der Individuation. Es gibt weitere Gemeinsamkeiten, so die Bedeutung von Sprache und Symbol oder die Geheimhaltung mit ihren Vor- und Nachteilen. Ein wenig bekanntes Bindeglied zwischen der Alchimie und dem Bau von Kathedralen sind die gotischen Farbfenster des 12. und 13. Jahrhunderts.
Beide Disziplinen bezeichnen sich als «königliche Kunst». Plato meinte damit die Philosophie. 1723 spricht James Anderson in seinen «Constitutions» von einer «royal art». Und in der alchimistischen Literatur wird bisweilen das Ziel erwähnt, das «himmlische Königreich» in sich selbst zu gründen. – Was aber macht die «königliche Kunst» so königlich?
Eine Kultur der Sinne
Die «königliche Kunst» vollbringt eine Meisterleistung. Abstrakte Ziele wie Orientierung in der Welt, Erhellung der Existenz und Bezugnahme auf spirituelle Dimensionen fasst sie in konkrete Formen. Freimaurerei wie Alchimie verfügen über eine hoch entwickelte Ästhetik. In der Alchimie begegnet eine suggestive Sprache voller Allegorien und Anspielungen. Das Motto «Wie oben, so unten» widerspiegelt das Prinzip schier unerschöpflicher Entsprechungen. Diese Ausdruckskraft faszinierte Vertreter der Romantik ebenso wie James Joyce oder den Surrealisten André Breton. Die alchimistischen Autoren zielen darauf ab, über Denkbilder, sprich die Sinne, den Intellekt anzusprechen. Visionäre Einsicht zählt mehr als das buchstäbliche Schriftverständnis. Die Buchstabensprache ist in ihren Augen wie im babylonischen Turm desavouiert und zwingt den Geist mit ihrer Grammatik in zu enge Formen. In den alchimistischen Schriften werden dem Text oft Bilder gegenübergestellt, die von grossem Reichtum an Metaphern zeugen. Bestimmte alchimistische Drucke setzen sogar ganz auf die Kraft der Darstellungen und kommen ohne Text aus.
Zur Zeit der ersten Grossloge war die Alchimie weit präsenter, als man sich das heute vorstellt.
Auch die Freimaurerei ist eine Kunst sprachlicher und symbolischer Natur. Hoch komplexe spirituelle Zusammenhänge erhalten konkrete, einfache Formen. Die Symbolik hat einem rationalen Ansatz immer etwas voraus: Sie enthält mehr an Sinn, als aufs Mal erfassbar ist – und mehr, als man je aussprechen kann. Das trägt massgeblich zur psychagogischen Kraft der Freimaurerei bei. In jeder Tempelarbeit ist dieser Zusammenhang aufs Neue erfahrbar.
Von Ägypten bis Newton
Alchimie und Freimaurerei bewegen sich vor einem mehr als 4000jährigen kulturellen Hintergrund. Bis ins alte Ägypten lassen sich bestimmte Traditionen zurückverfolgen. Man denke nur an Hermes Trismegistos. Zudem gibt es zeitliche Überschneidungen und aus diesen heraus Einflüsse, v. a. der Alchimie auf die Maurerei. Zur Zeit der ersten Grossloge war die Alchimie weit präsenter, als man sich das heute vorstellt. Ein Autor des 18. Jahrhunderts formulierte das in zugespitzter Form: Ein Mann, der etwas auf sich halte, verfüge über ein alchimistisches Labor. So gab es durchaus Logen, die in ihren Räumlichkeiten auch eine für alchimistische Praktiken unterhielten. Glücksritter wie Cagliostro und Casanova verbreiteten in Maurerkreisen entsprechendes Gedankengut.
Oder man denke an Newton. Er war nicht Freimaurer, bewegte sich aber in einem Amalgam von Alchimie und Wissenschaft. An ihm wird deutlich, wie präsent die Alchimie im Übergang vom 17. ins 18. Jahrhundert war. Er hat einen alchimistischen Index mit 100 Autoren, 150 Schriften und 5000 Seitenverweisen unter 900 Stichworten angelegt. Seine alchimistischen Schriften füllen Bände und sind weit umfangreicher als seine wissenschaftlichen Arbeiten.
«Verbrannte Gehirne»
Eine Gemeinsamkeit zwischen Alchimie und Freimaurerei besteht darin, dass sich beide aus einer operativen Tradition in eine spekulative weiterentwickelten. Das konnte so weit gehen, dass spätere Alchimisten selbst gar keine Experimente mehr durchführten. Das Vokabular der operativen Phase wurde aber in der spekulativen übernommen. In beiden Disziplinen können Leute ohne entsprechendes Wissen an den konkreten Formen und Ausdrücken haften bleiben, ohne die spirituelle, ethische und psychagogische Dimension zu erfassen. Missverständnisse sind eine zwangläufige Folge.
Das wird noch verstärkt durch das Gebot der Geheimhaltung, das sich Freimaurer wie Alchimisten auferlegen. Diese Taktik fordert Gerüchte, ja Feindbilder geradezu heraus. In einer Schrift des 17. Jahrhunderts ist davon die Rede, dass den alchimistischen «Sudelköchen» ihre Versuche «das Gehirn verbrannt hätten». Und wenn in den alchimistischen Werken Motive mit vordergründig sexuellem Inhalt falsch aufgefasst werden, kann das Gegnern sogar willkommen sein. Von hier zum Taxil-Schwindel des 19. Jahrhunderts, wo Freimaurern das Hypnotisieren eines Klavier spielenden Krokodils vorgeworfen wird, ist es ein kleiner Schritt.
Der Stein, an dem der Freimaurer arbeitet, und der Stein der Weisen in der Alchimie stehen für Wandlungsprozesse archetypischer Art.
In einem anderen Gerücht überlappen sich Alchimie und Freimaurerei. Es geht um den Tod – genauer: die Ermordung – Mozarts. Die Fama besagt, dass dieser seine Syphilis mit Quecksilber behandelt habe. Die Freimaurer hätten die Dosis langsam gesteigert, um ihn für den Verrat in der «Zauberflöte» zu bestrafen, und ihn so umgebracht.
Die «Nachtmeerfahrt»
Alchimistische Neophyten mussten alle chemischen Prozesse durchspielen. Die Idee war wohl, dass die «äussere» Arbeit ein Exerzitium darstellt, aus dem heraus dann der spirituelle Weg möglich wird. Das Prinzip des «ora et labora», des «Bete und arbeite», findet sich auf vielen Darstellungen der Räume von Alchimisten. Der Stein, an dem der Freimaurer arbeitet, und der Stein der Weisen in der Alchimie stehen für Wandlungsprozesse archetypischer Art. Das alchimistische und freimaurerische Motto des V.I.T.R.I.O.L. ist bekannt. Konkret stellten die Alchimisten mit Kupfer- bzw. Eisenvitriol die Schwefelsäure her, mit der sie Metalle bearbeiteten. Das Wort kann aber auch anders gelesen werden. «Visita Interiora Terrae Rectificando Invenies Occultum Lapidem » besagt: «Besuche das Innere der Erde, durch Läuterung wirst du den verborgenen Stein finden.» Es geht hier um die Transmutation, also die sagenumwobene Wandlung von Blei zu Gold. Diese bedeutet auf den Menschen bezogen das «Stirb und Werde» der Individuation.
C. G. Jung hat diese Zusammenhänge in seinem 1944 erschienenen Werk «Psychologie und Alchimie» dargelegt und damit ein erneutes Interesse an der Alchimie geweckt. Seine Metapher der «Nachtmeerfahrt» lässt sich gut anwenden. Der Mensch versinkt in eine Art Ozean, sobald er schläft. Er stellt sich dort seinen Dämonen und Ängsten und muss mit diesen ringen, bis er am nächsten Tag neu geboren erwacht. Das ist ein intensiver Prozess.
Die mineralischen Stoffe erleiden in der Alchimie durch Zerstückelung, Verbrennung und Behandlung alle Wandlungsqualen wie der zur Erlösung und Wandlung bestimmte Mensch. Persönliche Probleme, scheinbar unlösbare Aufgaben, existenzielle Krisen oder notwendige Reifungsprozesse spielen dabei eine grosse Rolle.
Magisches Leuchten
Zu guter Letzt sei ein architektonisches Detail besonderer Art erwähnt, in dem die beiden Disziplinen zusammentreffen: das hochgotische Kirchenfenster des 12. und 13. Jahrhunderts. Sein Glas, ein Produkt alchimistischer Arbeit, reagiert auf das Licht nicht wie normales Fensterglas. Vielmehr lässt es das Licht nur teilweise durch. Es leuchtet wie von innen heraus, und das unabhängig von der Stärke des Tageslichts. Zu sehen sind solche Fenster u. a. im Kölner Dom. Die Wirkung geht über die rein operative Ebene hinaus. Es ist eine Feier des Lichts und der Verbindung von Sinnen und Spiritualität. T. M.