Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf?
Die Frage nach der (sozialen) Gerechtigkeit ist wohl so alt wie die Menschheit. Die Vorstellungen, die wir uns dabei machen, können von der Religion, einem bestimmten Staatsverständnis oder anderen Faktoren abhängen. Eine abschliessende Antwort auf die Frage «Ist das gerecht? » werden wir kaum finden. Es gilt sie stets von neuem auszuhandeln.
Umfragen in Deutschland ergeben, dass zwei von drei Bürgern die soziale Gerechtigkeit für ein zentrales Gut halten. Und John Rawls (1921–2002), einer der wichtigsten Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts, legte in seinem 1971 erschienenen Hauptwerk «Eine Theorie der Gerechtigkeit » das Verständnis von Gerechtigkeit als Fairness dar.
Einfach – und doch kompliziert
Er äussert sich dazu wie folgt: «Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muss fallen gelassen werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind.»
Doch einfach ist die Materie nicht. Die Ethikerin Susanne Boshammer bringt das auf den Punkt. Sie schreibt: «Dass Gerechtigkeit gefordert ist, ist völlig unstrittig – was Gerechtigkeit erfordert, ist dagegen höchst umstritten. » Die Geschichte gibt der Autorin recht. Wie soziale Gerechtigkeit hergeleitet und definiert wird, ist historischem Wandel unterworfen und bis heute Ergebnis eines bestimmten Menschen- und Weltbilds.
Anfänge bei den Griechen
Im 5. Jh. v. Chr. kam es zur ersten philosophischen Reflexion über die Gerechtigkeit. Die griechischen Sophisten brachten zwei Anschauungen ins Spiel, die auch später immer wieder diskutiert worden sind: Ist die Gerechtigkeit ein natürliches oder ein gesellschaftliches Phänomen?
Plato (428/427–348/347 v. Chr.) betont in diesem Zusammenhang zum ersten Mal die Rolle des Individuums. Zugleich fasst er in seiner «Politeia » («Der Staat») die Gemeinschaft ins Auge. Einerseits postuliert er die Harmonie der menschlichen Seele, die dem «muthaften», dem «denkenden » und dem «begehrenden» Teil gleichermassen gerecht wird, und andererseits ordnet er diese Instanzen den drei Ständen der Krieger, der Philosophen sowie der Handwerker und Bauern zu. Tapferkeit, Weisheit und Besonnenheit sind die jeweiligen Kardinaltugenden. Deren vierte, die Gerechtigkeit, macht aus den Staatsteilen ein vernünftiges Ganzes. Sie bedeutet, so Platon, «dass jeder das Eigene und Seinige hat und tut», oder auch dass «jeder einzelne nur einen öffentlichen Beruf in der Stadt ausführen soll, nämlich den, zu welchem seine Natur am besten geeignet ist.»
Aristoteles (384–322 v. Chr.) unterscheidet zwischen der Gerechtigkeit als «bester unter den Tugenden» und deren besonderen Aspekten: dem qualitativen der Verteilung von Gütern und Aufgaben bzw. dem quantitativen eines angemessenen Ausgleichs für verkaufte oder geschädigte Güter. Für Plato wie für Aristoteles gilt, dass die allgemeinen Verdienste massgeblich dafür sind, was wem zusteht – man denke an den Begriff der Meritokratie.
Von der Spätantike bis zum «Leviathan»
Diese Sicht ging in die Philosophie bzw. Theologie von Spätantike und Mittelalter ein, verbunden mit Plotin und Augustinus, Anselm von Canterbury, Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Einer unvollkommenen Gerechtigkeit auf Erden stand in ihren Augen die vollkommene im Himmel gegenüber.
In der Neuzeit bezog Thomas Hobbes (1588–1679) in seinem «Leviathan» von 1651 eine radikale Position. Er sprach vom «Homo homini lupus», vom «Menschen als des Menschen Wolf», und vom «Krieg aller gegen alle» als dem naturgegebenen Zustand des Menschen. Gerechtigkeit, so Hobbes, sei nur möglich, wenn die Menschen ihre Gewalt einem Staat übertragen. Damit würden die Rechte des Individuums geschützt.
Der «vereinigte Wille des Volks»
Einen «Gesellschaftsvertrag» forderte auch Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Seine These: Das Grundübel sei der Privatbesitz. Setze dieser ein, so verliere die Gesellschaft ihren vorzivilisatorischen, paradiesischen Naturzustand. Die Reichen ergatterten sich die Herrschaft über die Armen und die einfachen Naturen. Nur durch einen «Contrat social », geschlossen in freier Übereinkunft aller Bürger, könne diese fatale Entwicklung vermieden werden. Rousseau geht dabei recht weit. So schreibt er: «Der Bürger willigt in alle Gesetze ein, selbst in die, die gegen seinen Willen durchgegangen sind, selbst in die, die ihn bestrafen, wenn er eines davon verletzt.»
Auch Kant (1724–1804) postulierte, dass «die gesetzgebende Gewalt nur dem vereinigten Willen des Volks zukommen » könne. Die Gerechtigkeit fusse auf dem allgemeinen Sittengesetz des kategorischen Imperativs: «Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.»
Der «Schleier der Unwissenheit»
Ist die Gerechtigkeit nun, wie eingangs erwähnt, Teil der Natur, oder ist sie das Resultat gesellschaftlicher Prozesse? Im 19. wie im 20. Jahrhundert spielte in dieser Frage der sog. Rechtspositivismus eine wichtige Rolle. Bedeutende Stimmen waren Jeremy Bentham (1748–1832) und John Austin (1790–1859) sowie Hans Kelsen (1881–1973) und N. L. Hart (1907–1992). Gemäss dieser Auffassung beruhen Rechtsnormen auf dem staatlich gesetzten und anerkannten Recht. Das widerspricht einer naturrechtlichen Sicht, nach der sich Recht aus allgemeingültigen vorstaatlichen oder überzeitlichen Regelungen ergebe.
Kommen wir zum Schluss auf John Rawls zurück. Er unternahm den für die Moderne einzigartigen Versuch, individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit als gleichwertige Komponenten der modernen Gesellschaft zu definieren. Dabei ging er von einer hypothetischen Situation aus, in der Menschen gemeinsam die Grundsätze ihres Zusammenlebens bestimmen, ohne ihre künftige Stellung in der Gesellschaft zu kennen. Dank diesem «Schleier der Unwissenheit» würden sich jene Interessen durchsetzen, die alle Bürger teilen.
Wenn heute über Bedarfs-, Chancen-, Geschlechter-, Verteilungsund Generationengerechtigkeit diskutiert wird, dürfte es von Nutzen sein, weniger um Positionen zu zanken und um jeden Preis recht haben zu wollen, als die zugrunden liegenden Werte und Interessen herauszuarbeiten und so gegebenenfalls eine gemeinsame, auf Toleranz und Synthese beruhende Basis zu schaffen. Ein frommer Wunsch? T. M.