Furcht und Faszination

Archäologische Funde und frühe Schriften beweisen es: Der Mensch hat sich von alters her mit der Schlange auseinandergesetzt. Dabei kann sie als Verführerin zum Bösen und Agens des Todes ebenso verstanden werden wie als Heilerin und Symbol fruchtbaren Wandels. Hier einige Beispiele u. a. aus der Bibel, antiken Mysterien, der Alchimie und der Hermetik.

Karl Kerényi (1897–1973) war ungarischer Altertumsund Mythenforscher sowie, nach seiner Übersiedlung in die Schweiz, Mitglied der Zürcher Loge «Modestia cum Libertate». Er hat sich mehrfach über das Motiv der Schlange geäussert. So zitiert er den englischen Dichter D. H. Lawrence. Dieser deute «das Wesentliche an, wenn er vom Schlangensymbol sagt, es reiche so tief, ‘dass ein Rascheln im Gras auch den steifsten modernen Menschen bis zu jenen untersten Schichten in Bewegung bringen kann, welche er nicht in seiner Gewalt hat.’»

Klug und verschlagen

Schlangen können faszinieren, aber auch Angst, ja Panik auslösen. Das liegt, wie das die Autoren des «Buchs der Symbole» darlegen, nicht zuletzt an ihrer Physis. Die Tiere riechen mit ihrer gespaltenen Zunge, hören durch ihre Haut und nehmen Schwingungen niederer Frequenz wahr, was einen Bezug zum Geheimen suggeriert. Sie blinzeln nie, was sich als übernatürliche Wachsamkeit deuten lässt. Die Schlange häutet sich und ersteht neu. Währenddessen werden die Augenschuppen milchig. Das wird so ausgelegt, dass sie Zugang zu Erkenntnissen hat, die dem Menschen verborgen bleiben. Die Schlange kann mit dem Phallus und damit mit der Sexualität in Verbindung gebracht werden. An ihr Gift denkt man mit Schrecken. Es wird aber auch – dazu später mehr – mit Heilung konnotiert.

Diese Ambivalenz begegnet auch in der Bibel. Zwar heisst es in Matthäus 10,16: «Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben!» Doch weit bekannter ist eine Stelle in der Genesis 3,1–14. Nach dem Sündenfall «sprach der Herr, Gott, zur Schlange: Weil du das getan hast: Verflucht bist du vor allem Vieh und vor allen Tieren des Feldes. Auf deinem Bauch wirst du kriechen, und Staub wirst du fressen dein Leben lang. Und Feindschaft setze ich zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachwuchs und ihrem Nachwuchs: Er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihm nach der Ferse schnappen.»

In der christlichen Ikonologie trägt die Schlange mitunter den Kopf einer Frau als der Versucherin. Paulus, so das Glossar der Zürcher Bibel, «benutzt die Geschichte vom ersten Menschenpaar als Negativfolie, an der sichtbar wird, was Sünde und Fall bedeuten, von der sich Christus als der neue (Mensch. T. M.) A. abhebt, das neue Geschöpf, der Erstgeborene aus den Toten.» Anders die Darstellung der unbefleckten Empfängnis: Hier steht Maria mitunter auf einer Schlange – der Sieg über das Böse. Und Moses fertigte eine kupferne Schlange an, um die Israeliten vor Schlangenbissen zu bewahren.

Heilung im Schlaf

Die Schlange spielte in der Mythologie und den Mysterien der Antike eine wichtige Rolle. Sie wurde mit Zeus und Apollo, Persephones und dem Hades in Zusammenhang gebracht. Asklepios verkörperte den Genius des Arztes. Oft wird er mit seinem Stab dargestellt, dem sog. Caduceus, um den sich eine Schlange windet. Das gleiche Motiv begegnet im Zusammenhang mit Merkur. Folgt man Kerényi, so ist bekannt, welche Schlangenart Asklepios zugeordnet wurde: Die «als Coluber longissimus bekannte (Art. T. M.) ist eine Baumschlange und erreicht im Süden eine Länge von zwei Metern.»

Die Stätten von Epidauros und auf der Römer Tiberinsel waren der heilenden Kraft der Schlangen gewidmet. Kranke wurden hierher gebracht, damit sie im Schlaf in Kontakt mit den Tieren kamen, von denen Heilung ausging. Diese Tradition war verwandt mit dem sogenannten Tempelschlaf bei Orakeln. Kerényi zitiert einen entsprechenden Bericht: «Ein Mann wurde am Fusszehen geheilt von einer Schlange. Dieser war von einem bösartigen Geschwür am Fusszehen in schlimmer Verfassung. Er wurde am Tag von den Dienern herausgebracht und sass auf einem Sessel. Als ihn der Schlaf ergriffen, kam eine Schlange aus dem innersten Gemach des Heiligtums, heilte seine Zehe mit der Zunge und zog sich, nachdem sie das getan, ebendahin zurück. Als er erwachte und gesund war, sagte er, er habe ein Gesicht gesehen, es habe ihm geträumt, dass ein Jüngling von schöner Erscheinung eine Arznei auf den Zehen aufgestrichen habe.»

Nach der antiken Auffassung hat das Gift der Schlange zwei Aspekte. Es wurde als Pharmakon verstanden, von dem eine schädigende wie auch eine heilende Wirkung ausgeht. Asklepios soll das Blut der Medusa, deren Haar aus Schlangen bestanden hatte, verwendet haben, um Tote wieder zu beleben. Auf der psychologischen Ebene lässt sich die Ambivalenz so vorstellen: Schmerzhafte, wie Schlangen jäh auftretende Erkenntnisse, die den Kern einer Sache zur Geltung bringen, können über innere Konflikte, selbstzerstörerische Traurigkeit, Bitterkeit oder Reue krank machen, sie können aber auch heilen.

Alchimie, Uroboros und Hermetik

In der Alchimie wurde das Mercurium ebenso als Gift wie als Medizin verstanden. Paracelsus schrieb: Alles sei Gift. Aber die Menge sei entscheidend. Die durch das Pharmakon ausgelösten Prozesse stehen aus alchimistischer Sicht für die Selbstregulierung der Psyche. Entsprechend dem Grossen Werk handelt es sich um in sich geschlossene, wiederholte Wandlungsprozesse mit dem Ziel, die Substanzen zu verfeinern.

Dieses zyklische Element findet sich auch im Uroboros, einer seit archaischen Zeiten begegnenden Schlange, die sich in den Schwanz beisst. Sie verkörpert die Unendlichkeit, die ewige Wiederkehr, die Vereinigung der Gegensätze. Undifferenziertheit, Einheit, Totalität werden mit dem Uroboros ebenso konnotiert wie das Androgyne, die Möglichkeit zur Verwirklichung, der Status des Unbewegten und zugleich eines Perpetuum mobile.

Auf die Hermetik verweist ein Astrolabium des Baslers Leonhard Thurneisser zum Thurn. Das 1575 erschienene Werk enthält drei drehbare Scheiben, welche die Weltordnung mit dem menschlichen Mikro- und dem übergeordneten Makrokosmos repräsentieren. Ein langer, schlangenförmiger Zeiger verweist auf die entsprechenden Zusammenhänge. T. M.