«Früchte der Liebe»
Wie schlimm es um die Welt bestellt sein mag, Resignation ist keine Antwort. Vielmehr gilt es, die Menschheit als etwas Umfassendes zu verstehen, in dem der Eine dem Anderen hilft. Diese Solidarität lässt sich als eine Zusammenfassung der menschlichen Tugenden verstehen. Der Autor legt das im Hinblick auf das Green Cross Schweiz dar, das sich im Zusammenhang mit Umweltgiften engagiert.
Br∴ J. V., Loge Catena Humanitatis i∴ O∴ Zürich
Folgt man dem Galaterbrief 6,2, so gilt: «Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.» Wie populär Gesetze sind, bleibe dahingestellt; manchmal wäre man ja froh, sie würden nur für die Anderen gelten. Und dann erst noch so ein neues Gesetz, einer solle des andern Last tragen. Was geht das mich an, und woher kann man schon wissen, ob die Last des Andern nicht selbst verschuldet ist?
Mehr als eine ethische Anweisung
Und doch zeigt die zunehmende Lebenserfahrung, dass es kein echtes Glück auf Kosten anderer gibt und sehr wohl Erfüllung mit garantierter Nachhaltigkeit darin gefunden werden kann, zuweilen die Last des Andern zu tragen, sei es in Beziehungen, Gemeinschaften oder auch im öffentlichen Leben. Das Gesetz Christi entpuppt sich als Vieles mehr denn als eine rein ethische Anweisung und eine Aufforderung, für den Nächsten da zu sein und ihn zu (unter)stützen. Es hat mit echtem Leben, Sinn und Glück zu tun, auch wenn das den Menschen auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag.
Wie hat doch Robert Walser in seinem «Poetenleben» phantasiert: «Freundlich sind dort die Menschen. Sie haben das schöne Bedürfnis, einander zu fragen, ob sie einander unterstützen können. Sie gehen nicht gleichgültig aneinander vorbei, aber ebenso wenig belästigen sie einander. Liebevoll sind sie, aber sie sind nicht neugierig. Sie nähern sich einander, aber sie quälen einander nicht. Wer dort unglücklich ist, ist es nicht lange, und wer sich dort wohl fühlt, ist nicht dafür übermütig. (…) Wenn ein Mensch dort irgend einen Unglücklichen sieht, ist sein eigenes Glück auch bereits zerstört, denn dort, wo die Nächstenliebe wohnt, ist die Menschheit eine Familie, und es kann dort niemand glücklich sein, wenn nicht jedermann es ist. (…) Alles dient dort allem, und der Sinn der Welt geht deutlich dahin, den Schmerz zu beseitigen. Niemand will geniessen; die Folge ist, dass alle es tun. Alle wollen arm sein; hieraus folgt, dass niemand arm ist. Dort, dort ist es schön, dort möchte ich leben. Unter Menschen, die sich frei fühlen, weil sie sich beschränken, möchte ich leben. Unter Menschen, die einander achten, möchte ich leben. Unter Menschen, die keine Angst kennen, möchte ich leben.»
Blosse Phantasie?
So zeichnet Walser das Bild eines menschenfreundlichen Umfeldes, rückt den Garten in den Hinter- und die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Vordergrund seiner Paradiesvorstellung. Freilich schliesst er dieses wohlgelungene Werklein mit der ernüchternden Erkenntnis: «Ich sehe wohl ein, dass ich phantasiere.»
Hinter Walsers Beschreibung eines idealen Zusammenlebens der Menschen steht die tiefe Einsicht, dass alles Leben, ja, alles Leben zusammenhängt und eins mit dem anderen verbunden ist. Es gibt für einen Teil des Lebens demnach kein wahres Glück auf Kosten eines anderen Teils. Deshalb kann das Leben der Solidarität als eine Zusammenfassung der erstrebenswerten menschlichen Tugenden bezeichnet werden, auf welche die Freimaurerei in all ihren Ritualen in vielgestaltiger Weise immer wieder aufs Neue abzielt.
Uralte Tradition
Tugend- und Lasterlehren begegnen wir bereits in der Antike. Beim griechischen Dichter Aischylos ist eine Gruppe von vier Haupttugenden erstmals belegt, und zwar in seinem Werk «Sieben gegen Theben » (letzter Teil der Ödipus-Trilogie; Vers 610), das im Jahr 467 v. Chr. entstanden ist: verständig (sóphron), gerecht (dikaios), fromm (eusebés) und gut (agathós; im Sinne von «tapfer», andreios). Ihnen stehen die Hauptlaster gegenüber, die im mittelalterlichen Akronym «Saligia» als deren sieben wie folgt benannt wurden: Hochmut (Superbia), Geiz (Avaritia), Genusssucht (Luxuria), Zorn (Ira), Völlerei (Gula), Neid (Invidia) und Faulheit (Acedia; im Sinne von «Trägheit des Herzens / des Geistes», auch «Feigheit»).
Wie die Pferdeantilopen
Wir sind der Meinung, zumindest ein Stück von Robert Walsers Phantasie im «Poetenleben» verwirklichen zu können, ganz entgegen dem resignierten «Da kann man sowieso nichts tun.» Es gibt heute im Namen der Gerechtigkeit auch Bewegungen für eine solidarische Zukunft. Zumindest ein Stück dieser Solidarität können wir schon in der Gegenwart realisieren, wenn wir z. B. Frauen in kontaminierten Gebieten zur Selbsthilfe verhelfen oder ein Kind in kriegsgeschädigter Gegend orthopädisch versorgen. «Toleranz und Solidarität sind Früchte der Liebe», schrieb einst der katholische Pfarrer und Autor Elmar Gruber.
Zur Bibelstelle «Einer trage des andern Last» und zum Thema Solidarität kann die folgende Parabel aus dem nordnigerianischen Bauchi State mit seinem grossen Wildreservat eine beeindruckende Illustration bieten, über die nachzudenken sich lohnt: Die Pferdeantilopen mit ihrem graubraunen, rötlich schimmernden Haarkleid und einer schwarz-weissen Gesichtsmarkierung weisen bei einer Schulterhöhe von 1,40 Metern ein Gewicht von 270 Kilogramm auf, und beide Geschlechter tragen stark geringelte, halbkreisförmig nach hinten geschwungene, schwere Hörner. Einwohner erzählen, wie diese Tiere in der Regenzeit Flussfurten durchqueren.
Die Herde, die aus fünf bis zwölf Tieren besteht, steigt in Einerkolonne ins Wasser, die stärkeren zuerst. Sodann legt jede Antilope ihren Kopf auf den Rücken des Vordertieres. Im Wasser sind ihre Körper leicht, abgesehen von den schweren Hörnern, die von den Vordertieren getragen werden. Wenn das erste Tier ermüdet, verlässt es seinen Platz an der Spitze und schliesst sich zuhinterst der Kolonne wieder an, legt seinen Kopf auf den Rücken des Vordertieres und kann dadurch ausruhen. Seinen Platz vorne nimmt nun das zweite Tier ein und zeigt der Kolonne den Weg, bis auch es erlahmt und sich hinten anstellt. Auf diese Art und Weise helfen sich die Pferdeantilopen im Verbund, gefährliche Flüsse zu überqueren, was ein Tier allein nicht schaffen würde.