Freimaurerei oder Kabbala? Eine Klärung
Die Basis kabbalistischer Traditionen ist die Suche des Menschen nach der Erfahrung einer unmittelbaren Beziehung zu Gott. Es gibt verschiedene kabbalistische Schriften und Schulen, aber keine Dogmatik oder prüfbare Lehrinhalte, also keine allgemeingültige kabbalistische Lehre. Doch was ist ihr Zusammenhang mit der Freimaurerei?
Br∴ R. K., Loge Modestia cum Libertate i∴ O∴ Zürich
In der heutigen Literatur ist die Kabbala, übersetzt «das Überlieferte », eine mystische Tradition des Judentums und bezeichnet sowohl bestimmte überlieferte Lehren als auch historische Schriften. Sie steht in einer Jahrhunderte langen mündlichen Überlieferung, deren Wurzeln sich im Tanach, der Heiligen Schrift des Judentums, befinden. Tanach ist eine von mehreren Bezeichnungen für die Hebräische Bibel, die Sammlung heiliger Schriften des Judentums.
Über das Mittelmeer nach Europa
Die Bezeichnung «Kabbala» (hebräisch) geht auf den hebräischen Wortstamm קבל zurück und bedeutet «Empfangen», «Erhalten». Usprünglich bedeutete das Wort «Kabbala » die jüdische Überlieferung der Offenbarung der Tora an Mose am Sinai. Dieses Erleuchtungserlebnis steht im 2. Buch Mose 19-25 und 31-35 sowie im 5. Buch Mose 9-10. Im weiteren Sinne ist «Tora» auch ein umfassender Begriff für Gottes Verkündung an sein Volk.
Im 7. Jh. n. Chr. greift der junge Islam viele dieser hebräischen Ideen auf, wobei die heimatlosen Juden die Lehrer der mystischen Ideen bleiben. Sie kommen über das Mittelmeer nach Europa. Dort beeinflussen einander Juden, Christen und Moslems. Dies ist die Geburtsstunde des Wortes «Kabbala». Eine Umdeutung der Kabbala ins Christliche erfolgt erst auf dem Höhepunkt der italienischen Renaissance von etwa 1500 bis 1530.
Obwohl oft bestritten, finden sich die religiös-mystischen Ideen der jüdischen Kabbala noch heute in der Freimaurerei. Diesbezügliche rituelle Veränderungen der Königlichen Kunst wurden, aus Angst vor antisemitischen Anspielungen, gemieden.
Grundpfeiler der modernen Freimaurerei
Die Kabbalisten galten früher als Zauberer, die mit den zehn Zahlen (1–10) und den 22 Buchstaben ihres Alphabets Vorhersagen machen sowie Amulette und Zauberformeln herstellen konnten. Sie hätten um das Geheimnis der Schöpfung gewusst, da in den genannten Zahlen und Buchstaben die gesamte Schöpfung enthalten sei. Hier könnte das sagenumwobene «Geheimnis der Freimaurerei» seinen Ursprung genommen haben.
Im 17. Jh. werden die in den Hochgraden bedeutsamen rosenkreuzerischen Manifeste veröffentlicht. Eine Organisation, die es bis dahin gar nicht gegeben hat, wird populär. Die christliche Kabbala, die durch das Kreuz und die Rose dargestellt wird, wird zu einem Gedankengebäude zusammengefügt. In den rosenkreuzerischen Manifesten geht es um eine geistige Revolution. Mit anderen Worten, die kabbalistischen Gedanken von Menschenwürde und Toleranz werden Grundpfeiler der modernen Freimaurerei.
Der unaussprechliche Name
In der rituellen Arbeit im Meistergrad wird nach dem «verlorenen Meisterwort » gesucht. Hiram besass ein bestimmtes Wort, das nicht anders als ein Zauberwort aufgefasst werden kann, das ihm seine Mörder abringen wollten. Dank seiner Beharrlichkeit ging dieses mit seinem Tod verloren. König Salomo bzw. Salomon, Herrscher des vereinigten Königreichs Israel, ersetzte es durch ein anderes, bleibendes Wort.
In den Hochgraden des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus wird der Suche nach diesem Wort und seiner neuerlichen Auffindung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Hier spielen alte kabbalistische Überlieferungen mit, die auf das von Henoch vor der Sintflut verborgene unaussprechliche Wort, den geheimnisvollen Gottesnamen (Tetragrammaton), anspielen. «Nachdem er ein göttliches Leben geführt, nahm ihn Gott hinweg und ward nicht mehr gesehen.» An diese eigenartige Bezeichnung des «Hinwegnehmens» von der Erde schliessen sich in jüdischen Legenden zahlreiche Deutungen und Erzählungen an.
Eine kabbalistisch geprägte religiöse Erzählung berichtet, dass Henoch vor seiner Himmelfahrt auf zwei Steinen, welche die «Säulen Henoch» genannt werden, die Grundelemente der Religion und des Wissens eingemeisselt habe. Aus diesem Legendenschatz schöpfen verschiedene Hochgrade, indem sie in Henoch den Mann sehen, dem Gott seinen wahren Namen enthüllte. Als Henoch starb, blieb dieser Name in einem unterirdischen Gewölbe, wo er nach dem Verlust des wahren Meisterwortes wiedergefunden wurde. Die Suche hat auch damit zu tun, dass nach der freimaurerischen Lehre nicht nur der Kandidat ein Suchender ist, sondern der Freimaurer immer ein solcher bleibt, immer um Licht, um Wahrheit ringt. Dieses stete Suchen findet auch in den immer wiederkehrenden Wanderungen, «mystischen Reisen», seinen Ausdruck.
Die Kabbala und das Jahr 1717
Unsere Freimaurer-Lexika (z. B. Freimaurer-Wiki ) stellen übereinstimmend fest, dass im 18. Jh. in England diverse humanistische Strömungen des Adels und des Klerus zusammenfanden: die hebräische Kabbala aus Spanien, die christliche Kabbala aus Italien und das polysophisch- kabbalistische Weltbild der Rosenkreuzer aus Deutschland. Am 24. Juni 1717 entsteht aus diesen geschichtlichen Strömungen ein neuer Bund in England, der
- auf die Jahrtausende alte Geschichte der Maurer zurückgreift, was aber den neuen Bund nötigt, handwerkliche Symbole der Bauhüttentradition in geistige Werkzeuge der Frei-Maurer umzuwandeln;
- die spekulativen Ideen der hebräischen Kabbalisten zu Gott, Schöpfung und Mensch sowie ihr Wissen um das Geheimnis der Schöpfung in sein Lehrgebäude aufnimmt; und
- den Gedanken der Menschenwürde der Humanisten des 15. und 16. Jh. aufgreift. Insbesondere tritt der Toleranzgedanke der christlichen Kabbalisten – vermischt mit dem Aufruf der Rosenkreuzer-Manifeste nach Unabhängigkeit – in Erscheinung.
Obwohl die heutige Freimaurerei sich auf die Bauhüttentradition des Mittelalters beruft, ist es die altjüdische Kabbala, die das innerste Wesen der Freimaurerei ausmacht. Selbstverständnis des Menschen, Menschenwürde und Toleranzgedanke sind bis heute weltweite Essentialia der Freimaurer!