Ethik: heikel, aber notwendig
Wie bei vielen Dingen liegt auch in der Ethik häufig der Teufel im Detail. Wie soll man in Dilemmata entscheiden? Darf man um eines höheren Zwecks willen Korruption in Kauf nehmen? Bis zu welchem Punkt darf der Staat Massnahmen treffen, um seinen Bedürfnissen gerecht zu werden? Der Autor erörtert anhand konkreter Beispiele Elemente einer pragmatischen Ethik.
Von Br∴ K. E., L∴ Wahrheit in Liebe i∴ O∴ Islikon
Die Ethik ist im Kern eine philosophische Disziplin, auf jeden Fall, so weit es die normative Ethik betrifft. Mindestens genau so interessant ist aber die empirische Disziplin, vor allem, seitdem es möglich ist, Umfragen mit technischer Unterstützung der Fragebogenauswertung durchzuführen. Zum Beispiel betraf eine solche empirische Untersuchung kürzlich das Thema Moraldilemmata von Richtern und Rechtsanwälten: Wie wird das Auseinanderklaffen von Rechtsvorschriften und Moral gelöst?
Welt der Grauzonen
Ein in der Literatur verewigter Rechtsanwalt erhielt einen von seinen Schriftstellerkollegen erfundenen Reklamespruch: «Räuber, Mörder, Kindsverderber, alle nur zu Doktor Sperber». Seine Methode war bekannt: Er zog den Problembereich ins Lächerliche. Jedenfalls hat jeder Beschuldigte vor Gericht das Recht, juristisch ordentlich betreut zu werden. Das muss nicht unbedingt schon zu moralischen Dissonanzen führen.
Die moralischen Grenzen zwischen Personen und staatlichen Organisationen verschieben sich.
Moralische Vorstellungen können sich im Laufe der Zeit verschieben. Es kann aber auch zu einer Doppelmoral kommen. Gerade im Beschaffungswesen ist das ein bekanntes Problem. Die Regeln der vom Markt gegebenen Preisbestimmung werden ausser Kraft gesetzt. Der Einkäufer wird vom Lieferanten zusätzlich honoriert. Dies ist strafrechtlich als Untreue relevant, wird aber relativ selten kriminologisch untersucht, da Korruption bei beiden Parteien, Verkäufern wie Käufern, als peinliches Kontrollversagen wahrgenommen wird. Es braucht immer einen Anzeiger, der das auch strafrechtlich überprüft haben will. Bei Grossprojekten wie militärischen Flugzeugbeschaffungen gibt es in vielen Staaten nachträglich parlamentarische Untersuchungskommissionen, deren Ergebnisse zwar die Probleme klar aufzeigen, die dann aber keine weiteren Folgen nach sich ziehen. Andererseits kann in Staaten, deren Wirtschaft kaum mehr funktioniert, die Korruption der letzte Tropfen Öl sein, der das Getriebe noch ein wenig in Bewegung hält. So wurde der oberste Chef eines internationalen Konzerns entlassen, weil eine Tochtergesellschaft im Kriegsgebiet im Nahen Osten Schutzgeld bezahlte, damit der Betrieb nicht verwüstet wird. Als oberster Chef wusste er nicht einmal etwas davon, aber er hatte kein Kontrollsystem eingerichtet, das dies zumindest registriert hätte.
Über Gesetz und Gericht?
Die moralischen Grenzen zwischen Personen und staatlichen Organisationen verschieben sich. So beginnen viele Staaten einen sogenannten Staatstrojaner in Auftrag zu geben zur totalen Überwachung einzelner ihrer Bürger. Wer das explizit befürchtet, kann sich schützen. Der bisher einzige bekannte Einsatz eines Trojaners in einem Kriegsgebiet fiel durch Programmierfehler auf. Die Überwachung einzelner Bürger bedarf grundsätzlich des Richtervorbehaltes. Heute aber wird vermutlich der gesamte E-Mail-Verkehr gescanned, das heisst kontrolliert.
Auch im Steuerrecht gibt es Gegenden, wo Beweisbeschaffung mit Hilfe von Hehlern erfolgen darf. In rechtstaatlich sauberen Ländern halten sich jedoch auch Staatsorgane an die eigenen Rechtsvorgaben. Nur legal Gefundenes kann dort verwendet werden.
Ein neues Gedankenspiel als Entwicklungsaufgabe ist die Ethik selbststeuernder Fahrzeuge.
Selbst bei der Eruierung der Abgassteuern von Autos helfen staatliche Organisationen mancher Regionen bei der Fehlbemessung mit. Hinzu kommen Verhandlungen zwischen grossen Konzernen und politischen Grössen. Diese Gespräche stehen vielleicht am Ende über Gesetz und Gericht: «too big to fail».
Ein neues Gedankenspiel als Entwicklungsaufgabe ist die Ethik selbststeuernder Fahrzeuge. Es geht um die Frage der Auswahl des geringeren Schadens. Es gibt genügend Beispiele für Softwarefehler, für Situationen, die der Programmierer nicht oder falsch beurteilt hat, so dass Menschen zu Schaden gekommen sind. Es ist aber grundsätzlich falsch, dass selbstfahrende Autos eine Risikofunktion enthalten dürfen. Die Robotergesetze, die der Schriftsteller Isaac Asimov bereits 1940 schriftlich niedergelegt hatte, haben diese Situation mit der ersten von drei Regeln erfasst: Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen lassen. Somit darf kein Auto schneller fahren, als sein automatischer Erkenntnishorizont reicht. Unter diesem Gesichtspunkt sind selbst die Münchner Brauereizugpferde verkehrstüchtiger. Die Konsequenzen der Robotergesetze sind literarisch und filmisch genügend aufgearbeitet. Die Programmierung der Risikofunktion, die Frage der Ethik selbststeuernder Autos, ist nur als Gedankenkonstrukt möglich. Angesichts der Komplexität der realen Welt ist sie ohnehin nicht realisierbar.
Hilfen für sittliche Entscheidungen
Zwingende Verhaltensregeln werden durch Gesetze festgeschrieben und letztlich durch Gerichte sanktioniert. Moral und Ethik werden höchstens gesellschaftlich sanktioniert. Die Differenzierung zwischen Moral und Ethik ist ein philosophisches Problem, das zwar interessant ist, aber keinen pragmatischen Fortschritt bringt.
Freiheit und Gleichheit vertragen sich wie Feuer und Wasser.
Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Ethik und Natur sind nicht zwangsläufig kompatibel. Freiheit und Gleichheit vertragen sich wie Feuer und Wasser. Wir brauchen den freien Markt, den Tourismus und die Konsumgesellschaft, ungeachtet der Ressourcenverschwendung. Wohlstand und Bürgerruhe müssen erhalten bleiben. «Panem et circenses» oder «Brot und Spiele» lassen grüssen. Die Entwicklung einer pragmatischen Ethik zu beobachten gehört deshalb weiterhin zu unseren Aufgaben. Aber das ist nur eine Betrachtung des Ist-Zustandes. Es geht nicht um das Wissen um seiner selbst Willen. Vielmehr geht es um Hilfen für sittliche Entscheidungen.
Die Weiterentwicklung der persönlichen Ethik ist Teil der Arbeit am rauhen Stein. Bei einem freien Mann von gutem Ruf ist auch eine gut entwickelte Ethik zu erwarten.