Ein schillerndes Phänomen
Wie ist das Ego bzw. Ich zu werten? Steht es für Egoismus? Ist es eine überlebenswichtige Instanz, die für eine realistische und rationale Einschätzung der Welt steht? Oder ist es eine Grösse, die im falschen Verständnis Leiden schafft und zu überwinden ist? Das Gespräch mit einem Fachmann beweist: Alle drei Ansätze treffen zu.
Thomas Müller: Lieber Peter, wie definierst du das Ich bzw. Ego?
Peter Mai: Der Begriff des Ego leitet sich aus der indogermanischen Sprache ab und kann wissenschaftlich als «Ich» und umgangssprachlich als Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl verstanden werden. Wenn jemand sagt: «Ich bin», dann ist das keine feste Entität. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess des Werdens: Ich kann im Laufe meiner Entwicklung anders werden, als ich es heute bin. Folgt man dem Strukturmodell von Sigmund Freud, dann ist das Ich der Vermittler zwischen dem Es und dem Über-Ich. Das Es repräsentiert die eher unbewussten Motive, Neigungen, Affekte und Bedürfnisse, die nach dem Lustprinzip gesteuert werden und dem Handelnden nicht explizit bewusst werden. Im Über-Ich als psychischer Struktur sind soziale Normen, Moral- und Gewissensaspekte angesiedelt. Das Ich ist für die bewussten Handlungsaspekte zuständig, und indem es zwischen den Bedürfnissen des Es und den sozialen Erfordernissen des Über-Ich vermittelt, steht es für das Realitätsprinzip und kann Gefahren vorbeugen, Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen. Es handelt autonom, kann mit Schwierigkeiten fertigwerden, gleicht Selbst- und Fremdwahrnehmung miteinander ab.
Das Ich ist mit sozialen Rollen verbunden, z. B. mit einem Beruf oder der Elternschaft. Es hat zudem eine spirituelle Seite. Diese äussert sich in Einstellungen, moralischen Urteilen und Werthaltungen. Das Ich hat auch materielle Anteile. Man denke an Besitz, an die von der Werbung vermittelten Desiderate. Das Ich kann sich zum Objekt machen, indem es sich selbst reflektiert. Leider gibt es auch die Objektivierung des Frauenkörpers zum Zweck der sexuellen Befriedigung.
T. M.: Umgangssprachlich steht für die negativen Aspekte des Ich oft der Begriff des Ego. Wie siehst du dieses Phänomen?
P. M.: Der egozentrische Modus bringt mit sich, dass man das Selbst oder auch das Ich, das Ego in Abgrenzung zu den anderen Menschen gestaltet. Man will nur das, was einem Vorteile bringt. Der Andere ist in diesem Verständnis ein Rivale und kann zum Objekt eigener Bedürfnisbefriedigung instrumentalisiert werden. Die Idee eines fixierten, vom sozialen Kontext klar abgrenzbaren Ich scheint mir eine Illusion zu sein.
Leider prägt dieser egozentrische Modus auch unser Wirtschaftssystem. Das Ego als alleiniges Handlungsprinzip der Profitmaximierung wird in den Vordergrund gestellt. Das ist in meinen Augen ein degenerierter Freiheitsbegriff. Auch die Konsum – und Werbewelt propagiert Werte, die eher für Selbstbehauptung und Profit um jeden Preis stehen.
Unsere Ratio ermöglicht, dass sich das Individuum realitätsgerecht verhalten kann.
T. M.: Welche Auswirkungen auf den Menschen erfährst du als Psychiater?
P. M.: Leider kann man davon ausgehen, dass psychosomatische Störungen, Stresserkrankungen und andere psychische Probleme zunehmen. Die Vereinsamung, der Verlust sozialer Unterstützungssysteme, Gratifikationskrisen, d. h. man engagiert und verausgabt sich, ohne adäquat gewürdigt zu werden, sowie zunehmende Ungleichheit spielen dabei eine wichtige Rolle. Interessant hierbei ist, dass eine umfangreiche Selbsterfahrungs- und Resilienzindustrie dazu ermuntert, nur das eigene private Universum zu fördern und das Modell der Ich-AG weiter zu perfektionieren.
Auch aus dem Buddhismus gibt es für uns viel zu lernen.
Es kommt vor, dass man sich einzig über seine Arbeit, den gesellschaftlichen Status und die erworbene Machtposition definiert. In meiner Praxis treffe ich vermehrt Menschen an, die im mittleren oder oberen Kaderbereich Verantwortung übernehmen und in «der dünnen Luft da oben» oder in der «Sandwich-Position» zwischen Chef und Mitarbeitern immer mehr vereinsamen und zunehmend die Sinnfrage stellen. Wenn dann noch Stellenkürzungen anstehen und spezielle Produktionsmargen durchzusetzen sind, kann es zum Burn-out bzw. zu Überforderungen mit entsprechenden körperlichen und psychischen Krankheitssymptomen wie Schlaflosigkeit, Niedergeschlagenheit, ja zu Suizidgedanken kommen.
T. M.: Ist das Ich auch positiv zu bewerten?
P. M.: Durchaus. Das lässt sich im obigen Beispiel aufzeigen: Wenn das Ich die eigene Bedrohung z. B. durch Arbeitsplatz- oder Gesichtsverlust abwenden möchte, muss es lernen, flexibel zu reagieren: Unsere Ratio ermöglicht, dass sich das Individuum realitätsgerecht verhalten kann. Solidarische Gemeinschaften sind zum Überleben der Species Mensch zwar notwendig. Aber innerhalb dieser Gemeinschaften gibt es immer wieder auch Individualisten, die durch aussergewöhnliche Leistungen, Erfindungen oder Taten letztlich dem übergeordneten Ganzen dienen können. Ein gesundes Ich, das sich seiner sozialen Vernetzung bewusst ist, ermöglicht es auch, sich in der Welt zurechtzufinden und sich Herausforderungen zu stellen.
T. M.: Was täte den Menschen in unseren Breiten gut im Zusammenhang mit dem Ego bzw. dem Ich?
P. M.: Ich möchte mich hier auf den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber beziehen, der sich für das dialogische Prinzip zwischen Ich und Du eingesetzt hat. Für ihn wird aus dem Ich und dem Du ein Wir, wenn man sich austauscht, in Wechselwirkung steht. Daraus erwächst gegenseitige Identität. Das Wir spielt ebenso in der dinglichen, materiellen Welt eine Rolle. Es hat soziale und ökologische Aspekte.
Das Ich ist nach dieser Auffassung vergänglich, ganz im Gegenteil zur westlichen Vorstellung, die eher an Langlebigkeit, ewiger Jugend und Schönheit orientiert ist, denn das Ich darf nicht sterben. Für den Buddhisten hingegen ist das Ich stets in Bewegung. Es kann überwunden werden, um dem ewigen Leiden zu entgehen. Bescheidenheit, Respekt vor der Vergänglichkeit, das Prinzip des Teilens sind ein wahres Antidot zur einseitigen Ego-Orientierung. Zusammengefasst lässt sich also sagen: Wir können uns nur in Beziehung zu anderen Menschen, Tieren, Pflanzen und unbelebten Dingen wahrnehmen und selbst erkennen. Dieses Bewusstsein, dass wir hier auf diesem speziellen Planeten doch nur für eine kurze Zeit Gäste sein dürfen, ermöglicht es uns auch, in dankbarerer Verantwortung diese Welt so unverbraucht wie möglich den nach uns Kommenden zu übergeben.