Die Zeit im freimaurerischen Sinne
Das Rad der Zeit dreht sich, ohne dass es einer verlangsamen könnte
Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand fragt, weiss ich es. Wenn ich es jemandem erklären will, der fragt, weiss ich es nicht. Augustinus (354-430) Confessiones XI 14
K. W., Redner der Loge Akazia, Winterthur(Schweizer Freimaurer-Rundschau: Juni/Juli 2008)
Über die Zeit zu reden, ist eine Herausforderung, die man wohl kaum befriedigend meistern kann, denn jeder von uns hat eine Fülle von Erfahrungen über diesen Begriff und seine Ausdeutungen, ohne sie wohl systematisch geordnet zu haben.
Die Zeit begleitet uns allüberall, tagsüber mit dem Bewusstsein, dass sie verrinnt, unwiderruflich, nachts wenn wir schlafen, merken wir spätestens am nächsten Morgen, dass wiederum einige Stunden vorüber sind, ohne dass sie zurückkommen. Das Rad der Zeit dreht sich, niemand kann es verlangsamen oder gar anhalten!
In Kapitel 3 der «Prediger» (Altes Testament) ist diese umfassende Bedeutung von Zeit aufgereiht: Vom Geborenwerden über das Pflanzen, Weinen, Umarmen, Suchen, Schweigen, Reden bis zum Frieden, der seine Zeit hat. Über die Zeit nachdenken, ist oft schmerzhaft, weil wir uns dann eben jener Zeiten erinnern, die wir versäumt oder schlecht genutzt haben! Die Zeit ist uns immer präsent: Im Tagesablauf, im Denken, im Gedächtnis – in der Vergangenheit und in der Zukunft, nur in der Gegenwart nicht, da sie schon wieder vorüber ist. Es gibt also streng gedacht gar keine Gegenwart!
Umgangssprachlich verwenden wir beispielsweise das Wort «Zeitung», ohne uns der ursprünglichen Bedeutung bewusst zu werden: Wir lesen in ihr, was zurzeit geschehen ist, zu einem meist aktuellen oder eben schon vergangenen Zeitpunkt. Oder wir nehmen das Wort «Gezeiten» in den Mund und meinen das Wasser, das zu einer bestimmten Zeit kommt und auch wieder geht. Die Zeit verrinnt: Der Begriff verweist eindeutig auf ihre Irreversibilität. Wir waren irgendwann einmal 30 Jahre alt, nur einmal, ein Jahr später sind wir 31, wir begehen nur einmal den 30. Geburtstag! Die Zeit greift sich uns; wir können fast alles steuern, verändern, manipulieren: die Zeit nicht. Und viele von uns werden dabei gelebt, statt aktiv zu leben, das heisst die zur Verfügung stehende Zeit zu nutzen; die Zeit bestimmt ihr Dasein!
Zeitlos ist denn auch eine Metapher, die auf eine Konstante verweist, zum Beispiel die «zeitlose Schönheit» der Natur oder die «zeitlose Bedeutung der Liebe» – nicht aber das «zeitlose Glück», das ja individualisiert und damit auch veränderlich ist. Wie sagte Faust: «Werd ich zum Augenblicke sagen:Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst Du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn. Es sei die Zeit für mich vorbei!» (Goethe, Faust I)
Kaum jemand, der keine Uhr trägt, damit er nicht meist ziemlich angespannt den Ablauf einer in aller Regel gesetzten Frist beobachten kann: Wie lange noch, bis der Bus fährt, wann muss ich zum vereinbarten Treffpunkt aufbrechen, habe ich noch Zeit, die Zeitung zu lesen, bis die erwartete Fernsehsendung beginnt? Und diese Zeit wird vor allem erst wahrgenommen, wenn sie verflossen ist – dahinter verbirgt sich wohl die unabänderliche Botschaft, dass unser physisches Dasein endlich ist, wir nie mehr so lange leben werden, wie wir schon gelebt haben: «Jeder neue Tag ist der erste Tag des Rests meines Lebens!» – für Etliche eine erschreckende Erkenntnis, obwohl sie uns seit Kindsbeinen an begleitet und uns bewusst ist!
Bevor wir uns die Uhren in die Westentasche steckten und später ums Handgelenk banden, waren es die Kirchenuhren, die weit herum sichtbar waren und uns noch auf viel längere Distanz die Zeit mitteilten. Und noch früher verfolgten wir Menschen den Fortgang anhand des Laufs von Sonne und Mond, komfortabler und genauer anhand der Sonnenuhr, oder eben aufgrund der Gezeiten oder des Vogelgezwitschers, das ja in direktem und unmittelbarem Zusammenhang mit dem Lichteinfall steht.
Der Soziologe Norbert Elias (1897 – 1990) beschreibt in seiner 1984 erschienenen gross angelegten Studie «Über die Zeit» die Entwicklung des Zeit-Bewusstseins im Zusammenhang mit seiner Zivilisierungstheorie: Die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft hatte die immer ausgeklügeltere Entwicklung der so genannten Zeitbestimmer zur Folge, angefangen von der Beobachtung des Sternenverlaufs, der Wanderungen von Sonne und Mond, über Sanduhren und Wasseruhren, die Abbrandzeit kalibrierter Kerzen, den Hahnschrei bis zu den mechanischen Uhren ab dem 14. Jahrhundert.
So war das klösterliche Leben an einer tageslichtunabhängigen Zeitbestimmung für die regelkonformen Offizien interessiert. Die Bevölkerungszunahme in den Städten verlangte nach einem sozialen Signalsystem für Arbeit und Freizeit. Der Zeitdruck nahm zu, ihm war nur durch Ordnung, Methode und Planung zu begegnen. Der Mensch unterwarf sich die Natur auch mit seinem immer mehr strukturierten Leben. – Das Aufkommen der Handwerksbetriebe, später die Industrialisierung mit der Institutionalisierung der Lohnarbeit verstärkte explosionsartig die Notwendigkeit, Zeit zu messen und diese Messung allen verfügbar zu machen.
Noch zu meiner Jugendzeit arbeiteten die Bauern, so lange es das Tageslicht zuliess, die Uhrzeit war zweitrangig, ausser bei der täglichen Milchablieferung, die der Käser festlegte, und beim sonntäglichen Kirchgang, den der Pfarrer bestimmte. Zeitmessung als Ordnungswerkzeug! (In stark kirchenorientierten Gesellschaften war es allerdings noch bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts gang und gäbe, dass den Bauern die Sonntagsarbeit auf dem Felde untersagt war, ausser der Dorfpfarrer verfügte aufgrund ausserordentlicher Ereignisse – zum Beispiel einer vorausgegangenen lang andauernden Schlechtwetterperiode – eine rare Ausnahme.)
Die Zeit unseres befristeten Lebens einzuteilen, sie bestmöglich zu nutzen, ist eine Frage der Ökonomie und der Kunst. – Wir können die Zeit nicht stunden, wie der Gedichtband von Ingeborg Bachmann heisst (Die gestundete Zeit, 1953), mit dem sie – bedeutungsschwer – den Durchbruch schaffte. Wir können die Zeit auch nicht rückgängig machen, sie ist und bleibt auf ewig Vergangenheit. Und die Ewigkeit? Haben wir die Möglichkeit, in sie einzudringen? Oder bedeutet Ewigkeit das Ende unseres ganz persönlichen Lebens? Hört dann die Zeit auf, unsere persönliche Zeit, und ist alles nur noch Vergangenheit, an die wir uns aber dann gar nicht mehr erinnern können?
23 v. Chr. schrieb Horaz (65 v. Chr. – 8 v. Chr.): «Frag nicht, welches Ende die Götter mir, welches sie dir zugedacht haben, und lass die Finger von babylonischer Astrologie! Wie viel besser doch, was immer sein mag, zu ertragen! Ob Jupiter noch viele Winter uns zugeteilt hat oder den letzten, der jetzt an entgegenstehenden Klippen das Tyrrhenische Meer bricht – lebe mit Verstand, kläre den Wein und beschränke ferne Hoffnung auf kurze Dauer! Noch während wir reden, ist die missgünstige Zeit schon entflohen: Pflücke dir den Tag, und glaube so wenig wie möglich an den nächsten!»
Pflücke, nütze den Tag: Carpe Diem! 1896 verfasste Christian Morgenstern eine Parodie auf Horaz, die unter hedonistischen Aspekten durchaus auch dem ursprünglichen Sinn entspricht: «Lass das Fragen doch sein! Sorg dich doch nicht über den Tag hinaus! Martha! Geh nicht mehr hin, bitte, zu der dummen Zigeunerin!
Nimm dein Los, wie es fällt! Lieber Gott, ob dies Jahr das letzte ist, das beisammen uns sieht, oder ob wir alt wie Methusalem werden: sieh’s doch nur ein: das, lieber Schatz, steht nicht in unsrer Macht. Amüsier dich, und lass Wein und Konfekt schmecken dir wie bisher! Seufzen macht mich nervös. Nun aber Schluss! All das ist Zeitverlust! Küssen Sie mich, mon amie! Heute ist heut! Après nous le deluge! Die Zeit heilt aber auch Wunden, sie relativiert Vorurteile und Urteile, sie ändert Perspektiven. Sie ist nicht nur hinderlich, schmerzhaft:
Welcher 16-Jährige möchte nicht endlich 20 Jahre alt sein. Erst später behindern und gefährden wir uns vielleicht selbst, wenn wir realisieren, dass der Sand bereits zu mehr als der Hälfte in den unteren Teil des Stundenglases gerieselt ist. Und Zeit ist auch nicht nur für uns wertvoll: Wir können sie verschenken, unserer Familie, einem Bedürftigen, der unserer Zeit bedarf! «Ich habe jetzt keine Zeit für Dich, komm’ später» – «Du störst mich» – «Meine kostbare Zeit» – «Es ist reine Zeitvergeudung, mit Dir über dies und jenes zu reden». Zeit schenken – was für eine Gabe!
Martin Heidegger (1889–1976) definiert 1927 in seinem epochalen Werk «Sein und Zeit» unsere Mühsal mit der Zeit treffend und schonungslos: Die Zeitlichkeit prägt das Menschsein am tiefsten. Nur wenn die Zeit des Daseins auf ein unentrinnbares Ende, den Tod, zuläuft, ist sie von Grund auf knapp. Und alle Knappheiten unseres Lebens sind von dieser existenziellen Knappheit der unserem Ende entgegeneilenden Zeit abgeleitet! Ernst Jünger (1895 – 1998), wie Heidegger während Jahrzehnten verkannt und verfemt, hat zwischen der Lebenszeit und der Weltzeit unterschieden. Lebenszeit ist Zeit von Augenblicken, sie gerinnt, die Unendlichkeit der Weltzeit überdauert und prägt demgegenüber; das Individuum wird zwar nicht zur Nummer, aber «nur» zum einzelnen Stein.
Um die Öffnung der Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit möglichst schmal zu halten, hat der eilende Mensch seine Existenz ins Korsett der fristgerechten Termine gezwängt. Das «Sein zum Tode» (Martin Heidegger) wird im Alltag aus unserem Sinn verdrängt.
Dem Mensch der Moderne offenbart sich, dass sein Leben niemals mehr ausreicht, die Fülle der Phänomene zu begreifen und sie, wenn überhaupt, zu beeinflussen!
Jünger war eine «Jahrhundertgestalt», er hat die Weltzeit zu einem bedeutend grösseren Teil gesehen und erlebt als fast alle seiner Kritiker. Er hat «mit endlichen Mitteln ein Übermass an Realität» bewältigt, wie es Hans Blumenberg formulierte. Aber er war eben auch ein «Unzeitgemässer», ebenso wie Martin Heidegger, ein «Aufklärer grossen Stils», derer wir so stark bedürfen!
Zeit im freimaurerischen Sinne
Wir Freimaurer – d.h. die wir auf dem Wege sind, Freimaurer zu werden! – sind selbstverständlich auch den Zeitbegriffen unterworfen, welche die Philosophen über Platon, Aristoteles, Augustinus, Kant, Leibnitz bis zu Heidegger geprägt und interpretiert haben. Und wir unterscheiden uns auch nicht massgeblich von anderen Gemeinschaften, die sich der wachsenden Erkenntnis durch Arbeit an sich selbst verpflichtet haben!
Arbeit an sich selbst, Selbsterkenntnis – lebenslänglich – der unabdingbare Tod – die Trauerloge als ritualisiertes Bekenntnis! – sie tragen alle ausgesprochen oder stillschweigend den Begriff und die Bedeutung der Endlichkeit mit sich und damit die Zeit, die uns darauf hinsteuert!
In der «Kammer des stillen Nachdenkens» steht die Sanduhr dominierend auf dem Tisch, der zierliche, feine Strahl, der hinunterrieselt, zieht wohl die Augen jedes Lichtsuchenden auf sich. – Das Ende ist absehbar!
In der Werklehre im 1. Grad sagt der 1. Vorsteher: «Meine Brüder, der Schein der Morgendämmerung ist dem strahlenden Licht der Mittagssonne gewichen». Und wenn der Hammerführende Meister ihn später fragt, welche Zeit es sei, antwortet der Vorsteher: «Es ist Mittag, ehrwürdiger Meister, die richtige Zeit, mit unseren Arbeiten zu beginnen».
Und weiter im Dialog: «Warum am Mittag?»
«Wer des Lebens Mittag erreicht hat, ist reif für das Maurerhandwerk. Unsere Arbeit gelingt nur dann, wenn sie zur rechten Zeit geschieht». «Die rechte Zeit ist da. Der Meister befindet sich am Morgen, die Vorsteher zur Arbeit bereit am Abend, und das klarste Licht des Mittags erhellt unseren Werkplatz».
Man kann den Zeitenlauf wohl kaum schöner und klarer beschreiben wie diese tiefen Aussagen in unserem Ritual! Die Stille im Tempel, gefördert und geleitet durch die Zwiesprachen, die Erläuterungen und vor allem durch die Musik, bewirkt, dass wir die Zeit erfahren und uns – bei aller individuellen Freiheit, wie wir Rituale und Symbole verstehen wollen – allesamt bewusst werden, wie vergänglich unsere Dasein ist! – Die Endlichkeit ist immanent! «Ich zähle drei Jahre», antwortet der Lehrling. Der Bau der Kathedralen dauerte zum Teil Jahrhunderte (50 Jahre Bauzeit werden als sehr kurz bezeichnet!). – Die Zeitspanne, die der Maurerei im historischen Bezug innewohnt, ist enorm. Sie verweist auf den «zeitlosen» Charakter unseres Engagements, wir alle sind immer noch auf dem Wege der Selbsterkenntnis, das Ende der Arbeit ist weder absehbar, geschweige denn sichtbar!
Und unsere Brüder gehen – wenn ihre individuelle Zeit abgelaufen ist – in den «ewigen Osten» ein, dorthin, wo das Licht herkommt, wo also Licht ist – die Ewigkeit. Zerbricht man aber nicht an der Erkenntnis, dass das Hiersein endlich ist, die Arbeit aber nie ausgeht, dass wir also wohl nie die Bergspitze erklimmen werden?
Die Selbsterkenntnis als endlicher Mensch und das damit verbundene Streben, auf Erden das Richtige in der uns zur Verfügung stehenden begrenzten, aber in ihrer Spanne unbekannten Zeit zu tun, muss uns schützen vor dem Hadern! – Carpe Diem – nütze den Tag!
Am Rande erwähne ich eine spezifisch freimaurerische Zeitrechnung, die im 18. Jahrhundert kreiert wurde und in den Hochgraden zum Teil noch gebräuchlich ist: Anno Lucis: Man rechnet ab der angeblichen Erschaffung der Welt und zählt zur Jahreszahl 4’000 Jahre hinzu; wir befinden uns also heute im Jahre 6’008.
Der Royal Arch zählt anders:Anno Inventionis: Jahreszahl plus 530 (Royal Arch). Anno Mundi: Das ist die Jahreszahl plus 3 760. So zählt der Alte und Angenommene Schottische Ritus. Anno Ordinis: Jahreszahl vermindert um 1 118 (Knight Templars).
Einige Texte zum Thema Zeit:
Antoine de Saint-Exupéry (1900 – 1944), schrieb 1939 im Werk Terre des Hommes:
«Das, worauf es im Leben am meisten ankommt, können wir nicht voraussehen. Die schönste Freude erlebt man immer da, wo man sie am wenigsten erwartet hat. Diese Sternstunden lassen eine so tiefe Sehnsucht im Herzen zurück, dass manche Menschen Heimweh nach ihren trübsten Zeiten fühlen, wenn diesen ihre Freuden entsprossen sind».
Thomas Mann (1875 – 1955), Zauberberg, 6. Kapitel: «Die Kürze der Lebenszeit steht in argem Missverhältnis zur Fülle unserer Aufgaben, Ziele und Wünsche. Auch andere Dinge sind knapp: das Geld, die Arbeit und das Vergnügen. Die Zeit ist jedoch ein besonderes Mangelgut. Jeder gelebte Tag unseres Lebens bringt uns ein Stück dem Ende unserer irdischen Zeit näher. Jeder Tag, den wir durchleben ohne zu leben, ist verloren und lässt sich durch nichts auf der Welt zurückgewinnen».
Um den Wert eines Jahres zu erfahren, frage einen Studenten, der im Schlussexamen durchgefallen ist.
Um den Wert eines Monats zu erfahren, frage eine Mutter, die ein Kind zu früh zur Welt gebracht hat.
Um den Wert einer Woche zu erfahren, frage den Herausgeber einer Wochenzeitschrift.
Um den Wert einer Stunde zu erfahren, frage die Verlobten, die darauf warten, sich zu sehen.
Um den Wert einer Minute zu erfahren, frage jemanden, der seinen Zug, seinen Bus oder seinen Flug verpasst hat.
Um den Wert einer Sekunde zu erfahren, frage jemanden, der einen Unfall erlebt hat.
Um den Wert einer Millisekunde zu erfahren, frage jemanden, der bei den Olympischen Spielen eine Silbermedaille gewonnen hat.
Und zum Abschluss zitiere ich Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) der geschrieben hat:«Wunderliches Wort ‚Die Zeit vertreiben’ – sie zu halten wäre das Problem».