Der Da-Vinci-Code – kein Schlüssel zur Freimaurerei
Freimaurerei in der heutigen Gesellschaft
Die Freimaurerei vertritt keine ewigen Wahrheiten, enthält keine Glücksversprechen und ist nicht auf das Jenseitige ausgerichtet. Sie ist eine Schule der Menschlichkeit, wirkt in die Gegenwart und bleibt dem Wechsel der Zeiten ausgesetzt. Das ist ein stolzes und anspruchsvolles Programm.
A. M., Chefredaktor, alt Grossredner deutscher Zunge der SGLA (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Oktober 2006)
Diesen schönen Worten müssen adäquate Taten folgen. Es genügt nicht, sich an den Glanz vergangener Zeiten zu klammern und dabei genüsslich die Namen berühmter Brüder zu zitieren, die unerschrocken für ihre Ideen und Ideale eintraten. Nein: Freimaurerei muss gelebt werden, muss in die Tat umgesetzt werden. Und zwar jetzt und heute, von jedem einzelnen von uns.
Die Tatsache, dass Freimaurerei auf den einzelnen gerichtet ist, mag hie und da den Verdacht aufkommen lassen, bei diesen Menschen handle es sich um extreme Individualisten oder introvertierte und egozentrische Typen. Das trifft natürlich nicht zu. Der Geist der Freimaurerei verlangt von jedem, dass er sich als historischen Menschen versteht, der Werden,Wesen und Wandel menschlicher Institutionen erkennt und als Bürger in der sozialen Umwelt seiner Zeit ein aktives, tätiges Glied der Gesellschaft ist. Es wird verlangt, dass er ein Einzelkämpfer für das Gute, Wahre und Schöne ist. Es ist dem einzelnen Freimaurer überlassen, welchen Zeitproblemen er sich stellt, welche er für vordringlich erachtet.
Die freimaurerische Lebensphilosophie will das Gewissen schärfen. Jeder Freimaurer soll sich dabei zum Niveau jener souveränen Menschen emporarbeiten, die, seit die Welt besteht, ihre Existenzberechtigung stets nur darin gesehen haben, dass sie für die Menschheit da waren. Derart souveräne Menschen haben Neuerungen geschaffen, Initiativen geweckt und das Leben lebenswerter gemacht, auch ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, ob ihr Name von der Geschichte überliefert wird oder nicht. Das ist wahre Freimaurerei.
Tausende von Schöpfergestalten waren Freimaurer
Tausende von Schöpfergestalten sind Freimaurer gewesen oder haben der freimaurerischen Idee nahe gestanden. Sie hinterliessen Staatsgründungen und Staatsverfassungen, sie formulierten die Menschenrechte und begründeten die Humanisierung der Arbeitswelt. Sie kämpften für die Freiheit und den Frieden und gaben in Kunst und Wissenschaft dem Sittengesetz Ausdruck. Sie schufen vorbildliche, soziale Einrichtungen und legten den Grundstein für den Zusammenschluss Europas. Kurz, sie arbeiteten für die Menschheit. Was sie schufen, erreichten sie als Einzelne. Die Loge war für sie die Stätte der Besinnung, des gedanklichen Dialogs mit den brüderlich verbundenen Freunden.
In unserer Zeit ist eine solche Stätte der Besinnung und Begegnung nötig. Mehr Menschen als früher beginnen wieder nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Eine Antwort – sicher eine unter vielen – gibt die Freimaurerei. Schon Horaz sagte «Lebensglück setzt Lebenskunst voraus» Die freimaurerische Philosophie des Menschlichen ist eine solche Kunst, eine königliche Kunst, eine Kunst, die Lebensglück begründen kann.
Auf der esoterischen Welle
Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, der Unsicherheit. Viele Menschen suchen nach einem Halt. Sie suchen nach einer Hilfe. Das zeigt sich auch in der esoterischen Welle, die uns gegenwärtig überschwemmt. Zuerst das Buch «Sakrileg», den «Da Vinci-Code» und dann den Film im Hollywood-Format. Unzählige Bücher vorher und nachher, vom «Heiligen Gral» bis hin zum «Das Geheimnis der Templer und Freimaurer» beschäftigten sich mit unserem Gedankengut. Es ist erstaunlich, auf welcher esoterischen Welle wir reiten. Sollen wir Freimaurer da mitmachen, sollen wir uns auf dieser Welle treiben lassen und versuchen, gar davon zu profitieren.
Mit einem unvergleichlichen Werbeaufwand und mit einem Budget von 125 Millionen Franken wurde der Film «Der Da-Vinci-Code» produziert und in allen zivilisierten Ländern praktisch gleichzeitig in die Kinosäle gebracht. Schon das Buch von Dan Brown mit einer Auflage von 40 Millionen Exemplaren war ein Welterfolg. Auch der Film erreicht Rekord- Besucherzahlen. In der deutschen Übersetzung heisst das Buch «Sakrileg». Interessant wäre es festzustellen, wie viele der deutschsprachigen Leser auf Anhieb diesen Titel richtig deuten könnten. Lateinisch heisst es «Sakrilegium» und bedeutet soviel wie Gottesraub, die Verletzung oder Verunehrung einer heiligen Sache.
Dan Browns einseitige Sicht der Freimaurerei
Dan Brown versammelt im Buch «Sakrileg» so ziemlich alles, was der Markt an Verschwörungstheorien hergibt. Wir finden die Katharer, die Templerlegende, Maria Magdalena als Geliebte von Jesu und geheimnisumwitterte Symbole, die von Leonardo da Vinci stammen sollen. Auch die Prieuré de Sion fehlt nicht. Das ganze wird erweitert mit einer einseitigen Darstellung des Opus Dei und dem Treiben eines eigenartigen Pfarrers in einem kleinen Bergdörflein in den Pyrenäen.
Am Schluss kommt dann auch noch die Freimaurerei ins Spiel, und zwar mit der bedeutungsschweren Kapelle von Rosslyn in den Schottischen Hügeln. Alles in allem gesehen, kommt die Freimaurerei im Buch und im Film noch am besten weg.
Wir Freimaurer könnten eigentlich zufrieden sein und uns im beispiellosen Erfolg des Buches «Sakrileg» und des Filmes sonnen. Das ist jedoch zu einfach und zu billig. Ich bin der Meinung, dass wir uns ernsthaft mit dem Buch, aber auch mit der Medien-Welle rund darum herum auseinandersetzen sollten. Wir müssen nicht auf dieser Welle reiten. Wir sagen ganz offen unsere Meinung und legen unsere Prinzipien dar, die sich dann doch wesentlich von Dan Browns Sicht unterscheiden.
Der Film zeigt ganz klar, dass wir Freimaurer uns öffnen müssen. Gerade der Film ist der beste Beweis dafür, dass Geheimnistuerei zu den abwegigsten Spekulationen führt. So werden die wildesten Gerüchte in die Welt gesetzt und die ungeheuersten Geschichten erzählt, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben.
Wir Freimaurer haben nichts zu verbergen. Wir können unsere Ideale und unsere Ziele offen darlegen. Mit einem gewissen Stolz können wir auf die bald 300-jährige Geschichte der Freimaurerei hinweisen. Nach wie vor sind wir eine Schule der Menschlichkeit. Unsere Hauptaufgabe ist die Arbeit an uns selbst. Freimaurer in unserer Welt sein, heisst sich mit den Problemen in unserer Welt auseinander zu setzen, heisst menschlich sein, den Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen und sich nicht in einen Elfenbeinturm zurück zu ziehen und sich abzukapseln.
Problem Mitgliederschwund
Wenn wir Freimaurer auch im 21. Jahrhundert bestehen wollen, müssen wir uns gründlich über die Bücher machen. Wir haben ein Hauptproblem, und das ist die Überalterung. Und eng damit verbunden ist das Problem des Mitgliederschwundes: Mit den Neuaufnahmen können wir die Lücken nicht mehr füllen, die durch Abgänge und vor allem Todesfälle entstehen. Der naheliegendste und unverfänglichste Rettungsanker bestünde in der Rekrutierung neuer Mitglieder. Sie brächte frischen Wind, neue Ideen und eine Menge Goodwill mit – sofern wir Mitgliederwerbung befürworten und auch in die Tat umsetzen können. Die zuweilen im Brustton der Verlegenheit geäusserte Phrase, Qualität gehe vor Quantität mal beiseite, kommen wir nicht am Faktum vorbei, dass der Mitgliederbestand in der Schweiz, wie auch in England und den Vereinigten Staaten nicht nur stagnierend, sondern rückläufig ist. Im Gegensatz dazu erfreuen sich die Brüder in Österreich eines enormen Zustroms. Es bestehen für die Aufnahme Wartelisten. Und das trotzdem sich die Grossloge von Österreich konsequent weigert, sich zu öffnen und an der vollen Deckung festhält.
Die französischen Logen vermehrten ihren Bestand sogar von 40’000 im Jahre 1972 auf rund 140’000 Brüder im Jahre 2003, womit sie ihre Basis mehr als verdreifachten. Die französischen Logen betreiben aktiv Public Relations, beispielsweise durch zahlreiche Ausstellungen im ganzen Land und durch die Herausgabe einer Sonder-Briefmarke anlässlich der 275-Jahr-Feier der französischen Freimaurerei. Staatspräsident Chirac empfing die Grossmeister aller nationalen Grosslogen. In den grossen Blättern, von Paris-Match bis Le Monde und Figaro erschienen von hoher Wertschätzung zeugende Beilagen. In Frankreich stellt sich die Freimaurerei in der Öffentlichkeit völlig entkrampft dar. Sie meidet die Aura der Exklusivität und des distanziert Geheimnisvollen. Dafür bemüht sie sich um grösstmögliche Sachlichkeit.
Die österreichische Post hat einen wunderbaren Sonderblock zum Thema «Mozart und die Freimaurerei» herausgegeben. Dazu kommen Sonder- Briefmarken und Sonderstempel zum Mozart-Jubiläum. Vor allem Mozarts 250. Geburtstag ist ein Aufhänger, um sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren und darauf hinzuweisen, dass Mozart ein begeisterter Freimaurer war. Deshalb veranstalten die Zürcher Logen ein grossartiges Konzert mit einem hervorragenden Orchester, einem bekannten Chor von 60 Sängern und herausragenden Solisten unter dem Titel «Mozart, der Freimaurer und Musiker».
Wir müssen unverkrampft der Öffentlichkeit gegenüber treten
Für uns Freimaurer in der Schweiz bedeutet das, dass wir ebenfalls vom Geheimnisvollen wegkommen und uns unverkrampft der Öffentlichkeit darstellen müssen. Hier bietet sich das Internet als ideale Plattform geradezu an. Die Loge Catena Humanitatis unterhält – wie viele andere Logen – eine Homepage, die beachtet wird. Die Loge konnte in den letzten zwei Jahren zwanzig neue Lehrlinge aufnehmen, die sich grösstenteils über das Internet gemeldet haben. Diese Lehrlinge brachten eine willkommene Blutauffrischung und vor allem eine deutliche Herabsetzung des Durchschnittsalters.
Träger dieser Aktivitäten für die Öffentlichkeit ist die einzelne Loge. Das kann die Grossloge nicht selbst übernehmen. Dazu gehören die Tage der Offenen Tür, an denen man der Öffentlichkeit die Logenräume zeigt, oder öffentliche Informationsveranstaltungen, Ausstellungen über die Freimaurerei oder einen Zyklus von Vorträgen in Zusammenarbeit beispielsweise mit der Hochschule oder mit der Volkshochschule. Die Kreativität jeder einzelnen Loge ist gefragt.
Wir müssen unsere Aufgaben überprüfen und neu formulieren
Wenn Freimaurerei für heutige Menschen attraktiv sein soll, muss sie nicht nur einen realen Bezug zur Gegenwart und ihren Problemen haben, sondern auch konkret zu deren Lösung beitragen. Unsere Aufgaben müssen überprüft, konkretisiert und falls nötig, neu formuliert werden.
Damit die Freimaurerei überleben kann, soll sie den Angehörigen einen sinnstiftenden und authentischen Weg in die Zukunft weisen. Als ethisch moralische Vereinigung darf sie nicht länger zu Missständen und Gegenwartsfragen schweigen, die unsere Überzeugungen verletzen. Glaubwürdigkeit erreichen wir nur, wenn wir auch in der Öffentlichkeit engagiert zur Freimaurerei und ihren humanen Grundsätzen stehen.
Die Freimaurerei kann sich jederzeit auf unsere gute schweizerische Verfassung berufen, die alle Grundsätze enthält, die auch die unsrigen sind. Es ist dringend notwendig, dass unser Selbstverständnis als Staatsbürger und auch als Freimaurer positiv aufgebaut wird und zur Wirkung gelangt. Die Fragen, denen wir uns in Zukunft stellen müssen, erfordern dies von uns. – Meine lieben Brüder. Wir sind gefordert – packen wir es an!
(Ansprache gehalten anlässlich der Tempelarbeit der Schweizerischen Grossloge Alpina am Grosslogentag in Martigny am 11.Juni 2006)