Der Bruder im Clinch
Sind Konflikte ein Zeichen von Schwäche? Nicht unbedingt. Wenn sich Menschen in unterschiedlichen Welten bewegen und dabei ambitionierte Ziele verfolgen, stellen sich zwangsläufig Konflikte ein. Das ist auch bei uns Freimaurern der Fall. Es lässt sich sogar sagen: Je ernsthafter ein Bruder sich der königlichen Kunst verpflichtet, desto mehr Konflikte muss er unter Umständen angehen.
Wofür soll ich mich heute abend entscheiden: Loge, Überstunden, Schultheater der Tochter? Soll ich mich am Arbeitsplatz offen als Freimaurer bekennen? Kann ich gleichzeitig Freimaurer sein und politischer Konkurrent eines Logenbruders? Es liessen sich noch und noch Fragen dieser Art anführen. Es sind unangenehme Fragen. Und Unangenehmem geht man lieber aus dem Weg. Im Umgang mit Konflikten ist dies allerdings die unergiebigste Strategie. Konflikte wollen angegangen werden. Tut man das nicht, entwickeln sie eine Eigendynamik und können eskalieren.
Bewohner mehrerer Welten
Das Leben des Freimaurers lässt sich im Modell dreier konzentrischer Kreise darstellen. Da ist in der Mitte die Tempelarbeit, also die Esoterik, dann folgt als Übergang die Konferenz, und schliesslich ist da die profane Welt, die Exoterik. Zwischen diesen Kreisen bestehen Spannung und Austausch. Diese geben die Energie, das Leben mit allen seinen Facetten zu gestalten.
Die esoterische und die exoterische Seite sind in Vielem gegensätzlich. Im Tempel besteht eine Idealwelt. Anstelle banaler Gegenstände begegnen Symbole. Man hat die Klarheit des musivischen Pflasters mit seinem Schwarz und Weiss. Es geht um das Ziel, den Menschen zu veredeln, also um sein Potential. – In der profanen Welt geht es häufig phantasielos zu und her. Das nennt sich „der harte Boden der Tatsachen“. Man bewegt sich an der Oberfläche. Ein tieferer Sinn lässt sich nicht immer ausmachen. Es geht um die Grautöne, die auseinanderzuhalten sehr schwierig sein kann. Und oft hat man es mit Menschlich- Allzumenschlichem zu tun, das unverbesserlich scheint. Im Tempel geht es um Reflexion, Besinnung, das Finden
der Mitte. Man ist in der Bruderkette, also unter Gleichgesinnten. Maurerisches Licht und Wort gewähren Vertrauen, Sicherheit, Halt. Es geht um Tiefe. Verworrenes kann entflochten werden. – Ausserhalb des Tempels geht es um Aktion, den Schritt in die Welt hinaus, die Expansion. Man bewegt sich unter vielen Menschen, die von der Freimaurerei nichts wissen, vielleicht auch nichts wissen wollen. Es kann gar sein, dass sie voller Vorurteile sind, dass sie uns zum Feindbild machen.
In der profanen Welt sind wir oft der Hatz und Hektik unterworfen.
Gleichgesinnte zu finden kann schwierig sein. Profane Lichter etwa der Reklame und Wörter in politischen und andern Jargons können zweifelhafter Natur sein. Mitunter ist es dunkel in und um uns. Es geht mehr um Breite und Höhe als um Tiefe. Vieles begegnet in einer Form, die zu entwirren unmöglich scheint.
Im Tempel haben wir eine Auszeit mit ihren eigenen Gesetzen. Brüder bekleiden ein klar festgelegtes Amt. Die Rituale folgen einer festen Regie. – In der profanen Welt sind wir oft der Hatz und Hektik unterworfen. Je nach dem haben wir Rollen, die nicht klar definiert sind. Wir bewegen uns in unsicheren Horizonten. Wir müssen manchmal handeln, ohne alle Entscheidungsgrundlagen zu haben.
Zielkonflikte können z. B. dann entstehen, wenn man gleichzeitig die Zahl und die Qualifikation neuer Logenbrüder erhöhen will.
Viele Formen von Konflikten
Zwischen dem Tempel und der profanen Welt verläuft eine Grenze. «Profan » bedeutet wörtlich «draussen vor dem Heiligtum». In der Öffentlichkeit soll nicht über das Esoterische gesprochen werden. Die Belange der Bauhütte bleiben gedeckt. Zugleich soll das profane Denken und Verhalten Zeugnis von unserer freimaurerischen Gesinnung ablegen. Ein Bruder hat in diesem Zusammenhang etwas Schönes erlebt. Ein Vorgesetzter, der nichts Näheres über ihn wusste, fragte ihn: «Sind Sie in einer Organisation dabei, die sich zu einer ausgeprägten Ethik bekennt, z. B. den Freimaurern? Sie wirken so auf mich, und das macht mir Eindruck!» Neben der Richtung vom Tempel ins profane Leben ist auch die gegenläufige zu bedenken. Geschäfte und ähnliche Belange gehören nicht in die Loge. Gleichzeitig aber bringen wir aus unserem Alltagsleben Inhalte in den Tempel mit, die wir in der Arbeit reflektieren können. Sie sollten jedoch in unserem Inneren das maurerische Geschehen nicht verdrängen.
Die Konflikte, die sich in der freimaurerischen Lebensform einstellen, sind unterschiedlicher Art. Sie können mitunter auch in einander übergehen. Eine ist der Wertekonflikt. Kann ich die masonischen Werte von Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch im harten Geschäftsleben praktizieren? Daneben gibt es den Rollenkonflikt. Wie kann ich gleichzeitig Logenmitglied und Angehöriger einer städtischen Finanzkommission sein, wenn es um die Renovation des Tempelgebäudes geht?
Den Verteilkonflikt erleben wir, wie eingangs angesprochen, etwa im Umgang mit der Ressource Zeit. Auf Maurerwort haben wir geschworen, nie einer Arbeit aus vernachlässigbaren Gründen fernzubleiben. Was meinen aber Partnerin, Verein, Arbeit und die eigene Person, die auch
Aber kann es nicht hin und wieder vorkommen, dass angesichts von eklatanten Missständen das Temperament mit einem Bruder durchgeht?
einmal für sich sein will, dazu? Zielkonflikte können z. B. dann entstehen, wenn man gleichzeitig die Zahl und die Qualifikation neuer Logenbrüder erhöhen will.
Zwischen Pragmatiker und Don Quichotte
Wie geht man mit diesen Konflikten um? Stark vereinfachend lässt sich eine Typologie erstellen. Am vorbildlichsten ist sicher der zugleich ethisch und praktisch vorgehende Pragmatiker, der sich mit gesundem Menschenverstand und Augenmass den Schwierigkeiten stellt. Doch leider ist es nicht jedem gegeben, immer so zu sein. Es gibt noch andere Muster. Auch diese sind in uns angelegt.
Eines lässt sich als «Buridans Esel» bezeichnen. Die Bezeichnung geht zurück auf den persischen Philosophen Al- Ghazali (1058-1111) und beschreibt einen Esel, der zwischen zwei Heuhaufen steht und sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst fressen soll. Am Ende verhungert er. Das ist die klassische Situation eines „deadlock“, eines sich blockierenden Dilemmas. Wenn ein Bruder rat- und tatlos zwischen der Erfordernissen des Tempels und jenen der profanen Welt steht, muss er sich den Vergleich vielleicht gefallen lassen.
In der profanen Welt geht es häufig phantasielos zu und her. Das nennt sich ‘der harte Boden der Tatsachen’.
Des weiteren gibt es den „Michael Kohlhaas“. Der deutsche Dichter Heinrich von Kleist (1777–1811) hat in seiner gleichnamigen Novelle eine Geschichte aus dem 16. Jh. aufgegriffen. Es geht um einen Pferdehändler, dem Unrecht widerfahren ist und der derart rechthaberisch, misstrauisch, fanatisch und unbelehrbar vorgeht, dass er die Verhältnismässigkeit aus den Augen verliert. Nochmals: Das sind stark übertriebene Vergleiche. Aber kann es nicht hin und wieder vorkommen, dass angesichts von eklatanten Missständen das Temperament mit einem Bruder durchgeht?
Und wie steht es mit Don Quichotte, der gegen Windmühlen kämpft? Oder mit dem Messias, der alle bekehren will? Dem Dr. Jeckyll, der für das Gute steht und zugleich Mr. Hyde ist, der die weniger erfreulichen Seiten verkörpert? Die Aufzählung liesse sich noch fortsetzen. Zentral ist die Führung der eigenen Person. Konflikte muss man gar nicht suchen, die kommen von selbst. Und jedesmal sollte man einen Schritt zurück tun und sich fragen: Wie verhalte ich mich in dieser spezifischen Situation? Hier lässt sich ansetzen, wenn wir unser Konfliktverhalten verbessern wollen. Und einen Vorteil haben wir: In den Kolonnen sind lauter Brüder, die ebenfalls Freimaurer sind und z. T. die gleichen Konflikte erfahren wie ich. Wir stehen nicht alleine da. T. M.