Der Bau am Tempel der Humanität
Der Bau des Tempels der Humanität lehnt sich im übertragenen Sinn an den Tempel Salomon an, dem grossen Kultbauwerk in der Bibel. Das Lehrgebäude der Freimaurerei mit den Alten Pflichten impliziert, die eigene Persönlichkeit im Dienst der Humanität zu entwickeln. Die moderne Humanitätsidee entspricht dem maurerischen Selbstverständnis im Sinne von Menschlichkeit und Barmherzigkeit hilfebedürftigen Mitmenschen gegenüber. Vergessen wir nie: Im Gelübde haben wir uns verpflichtet, durch unser individuelles Wirken zur nachhaltigen Verbesserung der Menschlichkeit beizutragen. Die Rituale bereiten uns zum Handeln vor, ja befähigen uns geradezu, in unserem Einflussbereich humanitär zu wirken. Nur handelnd können wir Freimaurer Menschen verändern zu mehr Menschlichkeit und Toleranz.
H. E. F. – St. Johann am Rhein, Schaffhausen
Wir Freimaurer brüsten uns einerseits immer wieder mit den herausragenden Leistungen von grossen Freimaurer-Persönlichkeiten in den Bereichen Kultur, Politik, Gesellschaft, Literatur und Musik. Andererseits bedauern wir, dass heute solche Persönlichkeiten unter uns Brüdern rar geworden sind. Es darf uns aber nicht entmutigen, dass heute Mitglieder der Freimaurerlogen nicht mehr in den allerhöchsten Gremien und bei den wegweisenden Persönlichkeiten oder globalen Leadern zu finden sind. Selbstverständlich ist dies sehr schade! Um uns in allen Bereichen für mehr Menschlichkeit, Toleranz und Brüderlichkeit einzusetzen – den eigentlichen Zielen der Freimaurerei – gibt es für jeden Freimaurer-Bruder jedoch noch genügend Arbeit, lokal wie global. Auch alltägliche Arbeiten wie Unterstützung von Brüdern, sich aktiv einsetzen gegen Ungerechtigkeit, Hilfeleistungen, Handreichungen oder Beiträge an karitative Institutionen jeglicher Art, seien sie noch so klein, erfüllen die Ziele der Freimaurerei. Dass dazu auch Rücksichtnahme, Respekt und Höflichkeit gehören, versteht sich von selbst.
Das im übertragenen Sinn grosse Ziel des Baues am Tempel der Humanität setzt sich letztlich aus vielen behauenen Steinen (=Menschen) zusammen. Es gilt die gleiche Binsenwahrheit wie in einer gelebten Demokratie: Es kommt auf das Engagement eines jeden Einzelnen an. Machen wir davon regen Gebrauch wie viele praktizierende Freimaurer vor uns. Oder unterlassen wir dies vielfach aus lauter Bequemlichkeit? Menschlichkeit entsteht nicht durch eine schöne Rede, sondern ausschliesslich durch eine Tat! Was bedeutet „Bau am Tempel der Humanität“?
1723 erschien das Gesetzbuch der Freimaurer, die sogenannten „Alten Pflichten“. Darin wurden die Grundsätze des freimaurerischen Handelns, die bis heute gültig sind, schriftlich dargelegt. Sie verpflichten jeden Freimaurer-Bruder zu Toleranz und Achtung vor Andersdenkenden und alles zu tun, was Leben erhält, fördert und schützt, andererseits alles zu vermeiden, was Leben vernichtet, einschränkt oder beeinträchtigt. Humanität nachmeinem Verständnis beinhaltet aber auch die Achtung vor allen Kreaturen, seien es Menschen, Tiere oder Pflanzen. Während die operativen Maurer in den Bauhüttenmit Steinen Kathedralen bauten, so arbeiten wir modernen (spekulativen) Freimaurer am fiktiven oder gedachten Tempel der Humanität, also am Tempel der Menschlichkeit. Jeder Freimaurer versteht sich bei der Aufnahme in den Freimaurerbund als ein rauer Stein, der nach vielen Anstrengungen und Bemühungen („Erkenne dich selbst“) im übertragenen Sinn als kubischer Stein in den Tempel der Menschlichkeit eingefügt werden kann. Ziel ist eine weltumspannende Gesellschaft, geprägt von einem Geist der Humanität. Trotz dieses hohen Ziels sind wir Freimaurer keine Weltverbesserer, wir wollen vielmehr die Menschen verändern. Dieser Ansatz soll konkret im Beruf, in der Familie, in der Freundschaft, also im eigenen Einflussbereich geschehen. Dass wir Freimaurer dies „Königliche Kunst“ nennen, zeigt den hohen Anspruch und die Schwierigkeit zugleich.
Was impliziert der Bau am Tempel der Humanität?
Humanität, lat. humanitas, bedeutet vervollkommnete Menschlichkeit und impliziert, die eigene Persönlichkeit im Dienst der Humanität zu entwickeln. Die neuzeitliche Humanitätsidee entspricht dem maurerischen Selbstverständnis im Sinne von Menschlichkeit und Barmherzigkeit hilfebedürftigen Mitmenschen gegenüber. In der heutigen Zeit könnte man den in den Alten Pflichten enthaltenen „Auftrag“ zum Bau am Tempel der Humanität auch mit „Von der Vision zur Aktion“ umschreiben. Die oft zitierte Anekdote der drei Steinmetze, die Steine bearbeiten, bringt es auf den Punkt: Der erste Steinmetz sagt: ich behaue einen Stein („arbeiten am rauen Stein“). Der zweite Steinmetz sagt: ich arbeite an einem Spitzbogenfenster. Der dritte Steinmetz sagt: ich baue eine Kathedrale („arbeiten für das übergeordnete Ganze“). Im übertragenen Sinn heisst dies, arbeiten für den alleinigen Zweck der Freimaurerei: die praktische und konkrete Umsetzung unseres „Lehrgebäudes der Sittlichkeit“ im profanen Alltag, einen Beitrag leisten zur Verbesserung der Menschlichkeit. Unsere individuelle Arbeit am rauen Stein – eingebettet in die Bruderschaft – soll sich konsequent und immerwährend zum Wohle des wahren Menschentums auswirken. Jeder an seinem Platz, jeder nach seinen Möglichkeiten und jeder auf seine Weise!
Vom Tempel Salomon zum Tempel der Humanität
Der Tempel Salomon ist das wegweisende Symbol der Freimaurerei. Das erste grosse steinerne Kultbauwerk in der Bibel ist der Tempel Salomon. Während vielen Jahrhunderten galt er als Meisterwerk der Baukunst. Deshalb wurde er von den Steinmetzen der Dombauhütten zum sinnbildlichen Vorbild gewählt. Bei der modernen oder spekulativen Maurerei geht es insbesondere um den geistigen Aufbau des Tempels der Humanität. Es muss das Ziel eines jeden Freimaurers sein, sich nach erfolgreichem Behauen seines rauen Steines, dem Sinnbild für Unvollkommenheit, sich dereinst nach vielem Bemühen als kubischer Stein in den „Tempel der Humanität“ einzufügen. Dabei geht es immer um den Freimaurer als Individuum und nicht die Freimaurerei als Organisation. Kurz: Das Licht, das bei den operativen Maurern für ihre Arbeiten die Bauhütten erhellte, bedeutet bei den modernen Freimaurern das Licht der Erkenntnis zur Verbesserung der Humanität!
Konditionierung im Ritual
Die Loge ist die Lehr- und Übungsstätte und das Ritual ist das zentrale Element unserer Bruderschaft. In den Ritualen wird das sittliche Lehrgebäude vermittelt – durch Gleichnisse, Sinnbilder, Gegenstände, Zeichen und Vorgänge. In unseren rituellen Arbeiten bauen wir am Tempel der Humanität. Wie heisst es doch in einem unserer Rituale „Die Freimaurer bilden eine verbreitete Bruderschaft, deren Zweckdarin besteht, im Geiste wahrer Bruderliebe echte Humanität zu fördern“. Die Loge ist der Nucleus freimaurerischen Wirkens. Es gibt aber keine Wirkung nach aussen ohne den Weg nach innen; der Weg aber ist individuell. Das verbindende Element ist das Ritual. In immer ähnlicher Dramaturgie verlaufen die Handlungen und Wechselgespräche zwischen dem Meister vom Stuhl und den beiden Vorstehern und schaffen dadurch die spirituelle Dimension im gemeinsamen Erleben. Auch dies letztlich mit dem Ziel, uns für die konkrete Umsetzung des humanitären Wirkens zu konditionieren.
Das Gelübde – die Verpflichtung
Ein Gelübde ist die höchste Form von Verbindlichkeit. Während der Initiation ist der Neophyt mit viel Neuem konfrontiert, sodass er kaum alles mit der gebührenden Anteilnahme aufnehmen kann. Insbesondere gilt dies für das Gelübde. Da man nicht oder kaum darauf vorbereitet werden kann, ist aber mindestens eine vertiefte Nachbereitung notwendig. Die beste Nachbereitung ist die regelmässige Teilnahme an Tempelarbeiten, an Instruktionen und bei der Diskussion von Baurissen. Aber selbst diese „Übungen“ sind keine Garantie, dass man die Verpflichtungen des Gelübdes einhält. Das Befolgen der Verpflichtungen ist primär ein Ausdruck der Persönlichkeit und des eigenen Willens eines jeden Bruders. Humanitäres Wirken muss jedoch nicht „nur“ eine Verpflichtung sein, sie kann einem auch Freude bereiten und stolz machen. Das Gelübde ist einerseits eine Selbstverpflichtung und anderseits eine verbindliche Leitlinie für unser Handeln. Insbesondere in Zeiten des Wertewandels und des beschleunigten gesellschaftlichen Umbruchs gibt uns das Gelübde Sicherheit im Alltag für das eigene Verhalten und das individuelle Wirken zur nachhaltigen Verbesserung der Menschlichkeit.
Die Verantwortung als Freimaurer
Verantwortung übernehmen bedeutet, die Folgen zu tragen für die eigenen Handlungen und dafür gerade zu stehen. Wer Verantwortung hat für irgendetwas oder irgendjemanden, muss sich bewusst sein, dass er andere Menschen mit seinen Entscheidungen positiv oder negativ beeinflussen kann. Wenn wir in unseren Ritualen beispielsweise das Winkelmass – eines der drei grossen Lichter – auflegen, impliziert dies, dass wir uns im profanen Alltag aktiv für Gerechtigkeit, für Menschenliebe und Toleranz einsetzen und gegen alle Arten von Ungerechtigkeit kämpfen. Fehlentwicklungen mit Verstand und Herz korrigieren gehört ebenfalls zu Verantwortung übernehmen wie Missstände ansprechen auch wenn es unpopulär ist und Zivilcourage erfordert. Es ist mir bewusst, dass dies insbesondere in beruflichen Situationen von einem Freimaurer gelegentlich ein hohes Mass an Zivilcourage erfordert. Dass der Grad der Verantwortungsübernahme verschieden sein kann – aus welchen Gründen auch immer – versteht sich von selbst und entspricht auch dem Toleranzgedanken. Wir können aber die freimaurerischen Ziele nur erreichen, wenn wir als Individuum in unserem persönlichen Wirkungskreis agieren und unser sittliches Verantwortungsgefühl handelnd einsetzen. Verantwortungslos handeln dagegen schadet der Bruderschaft und der Gemeinschaft. Der Alltag bietet aber jedem von uns viele kleinere oder grössere Möglichkeiten, für die Ideale der Freimaurerei einzutreten. Ein Engagement für eine humanere und gerechtere (Arbeits)Welt lässt sich aber nicht an andere delegieren. Wir sind für unser Handeln oder Nichthandeln einzig und allein verantwortlich. Wie kann man dieses hohe Ziel konkret umsetzen? Allein durch handeln!
Die Leitmaxime in der Freimaurerei heisst handeln!
Die folgenden spontan ausgewählten Fragen bzw. Handlungsanweisungen, die jederzeit und ohne grossen Aufwand umgesetzt werden können, sollen zum Handeln anregen („jeder an seinem Ort, jeder auf seine Art und jeder nach seinen Möglichkeiten“):
– Welchem einsamen Menschen kann ich ein paar Stunden für ein Gespräch schenken?
– Welchem kranken Menschen kann ich einen Blumenstrauss persönlich zur Genesung überbringen?
– Wie kann ich meine Erfahrung und meine Zeit konkret für ein humanitäres Werk einsetzen?
– Was hindert mich, einem unbekannten Menschen ein Lächeln zu schenken? – Es macht mir Freude, wenn ich das nächste Mal ein etwas „sportlicheres“ Almosen einlege!
– Bei einer nächsten Entscheidungsfindung bringe ich Argumente ein, die einem bedürftigen Menschen oder einer Gruppe von benachteiligten Menschen einen grösseren Nutzen bringen!
– Bei einen unvermeidlichen Stellenabbau gestalte ich die Situation für die Betroffenen sozialverträglicher!
– Ich setze mich aktiv gegen die Gewalt an Tieren ein!
– Ich betätige mich bereits während meinem aktiven Arbeitsleben und nicht erst nach der Pensionierung karitativ!
– Ich wehre mich aktiv für einen Menschen, dem Unrecht geschieht!