Das Einzelne und das Ganze
Am Beginn der Menschheitsgeschichte steht ein ganzheitlicher und respektvoller Animismus als frühe Form der Esoterik. Im 19. und 20. Jahrhundert begegnet ein neues, fragwürdiges Verständnis dieser Disziplin. Zudem gewinnt die Wissenschaft an Boden, ein System mit positiven und negativen Auswirkungen. Die maurerische Esoterik gibt dem Menschen seine Würde zurück.
Von Br∴ G. G., L∴ Zur Windrose i∴ O∴ Sargans
Was die tatsächlich fruchtbringende Komponente im Verhältnis von Esoterik und Wissenschaft ist, scheint fraglich. Vielleicht ist die Beziehung eher gespannt oder ein verwackeltes Schwarz-Weiss-Bild. Manche wissenschaftlichen Betrachter der Historie gehen davon aus, dass die Esoterik, in all ihren Legenden, Märchen und vereinfachenden Mythen, am Beginn aller Welterklärungen liegt.
Die Welt des Schamanen
Ein früher Begriff für Esoterik ist Animismus, eine besondere Form der Belebung und Personifizierung von wesentlichen Phänomenen. Der Animismus erweist sich als günstiges Instrument, um konkrete Naturbeobachtungen in eine erfundene Ordnung zu fügen und daraus Verhaltensnormen für kleinere und grössere Gruppen zu formen. Der Begriff Animismus taucht als Sammelbegriff für alle Religiositäten auf, die keine Schrift und keine Bücher verwenden.
Ein Schamane, der seinen Beruf als Berufung von seinem Vorgänger übernommen hat, beobachtet ein ganzes Leben lang psychische und physische Abläufe in seiner Gruppe, bedenkt die Entwicklungen, analysiert und zieht daraus Schlüsse. Er baut sein Lernen in vorhandene Denkmuster ein und entwickelt sich mit seiner Bewusstheit zur führenden Person seiner Gruppe. Er setzt sein Wissen aus Überlieferungen und eigener Anschauung taktisch ein. Die Sinnhaltigkeit seiner Aktivitäten liest er an der Wirkung seines Handelns ab.
Der grosse Zusammenhang
Fehlerquellen sind dabei Beobachtungen, die gemacht werden, weil sie so ins ideologische Bild passen oder nicht vorurteilsfrei vorgenommen werden. Dieses Wissen ist ein Konglomerat aus Wunsch und subjektivem Erlebnis, aus erfundener Ordnung und Bedeutungsgebung sowie aus angenommener Naturordnung. Ausserordentlich ist das Selbstverständnis von Angehörigen animistischer Konzepte. Sie verstehen sich nicht als unabhängige Individuen, sondern als abhängige Teile eines sehr grossen Zusammenhangs. Daraus ergibt sich ein Respekt aller Umgebung gegenüber.
Die schwer zu ertragenden Zufälle von Überschwemmungen, vertrocknenden Feldern, Unwettern, Phänomenen zwischenmenschlicher Unordnung und vielem mehr sorgen für Ehrfurcht vor den unbegreiflichen Wirkkräften. Für den geistigen und emotionalen Umgang mit ihnen bekommen diese Kräfte Namen. In monotheistischer Diktion sind sie nur als Götter zu denken. Diese Alleinstellung kennen die Kräfte in ihrer eigenen animistischen Welt nicht.
Obskurität und Arroganz
Im letzten Drittel des vorletzten und am Anfang des letzten Jahrhunderts beginnen sogenannte Eingeweihte nun, mit einem neueren Begriff der Esoterik zu hantieren. Obskure Personen rufen sich aus als Abgesandte irgendeines grossen mystischen Etwas und basteln religiöse Sekten, Anthroposophien, Theosophien, Gralszirkel und vieles mehr aus allem Möglichen, das ihnen begegnet. Eklektizistische Collagen verbreiten sich wie Unkraut, weit entfernt von der Bescheidenheit und dem Respekt des Animismus. Hier sehen sich solche Personen als die auserwählten, stolzen Wissenden um das Wahre. Eingehüllt in ihre Zirkelschlüsse, führen sie ein arrogantes Innenleben mit Abscheu vor dem Anderen.
Die Weltuntergangsstimmung der Industrialisierung scheint mit der Veränderung der Lebensbedingungen zu solch simpler Hilfe zu verleiten, um aus irgend einem Jenseits das Hier zu retten, ohne den eigenen Unsinn zu hinterfragen. Im Rückspiegel suchen viele das Heil und nageln Himmelsleitern zusammen, untermalt von halluzinierendem Murmeln.
Zerlegen und Neu- Komponieren
Die Wissenschaft sieht vom animistischen Standpunkt wie ein Instrument zum Zerpflücken des grossen Gefüges und zum Verpacken der Einzelteile in separate Schachteln aus, unter Verzicht auf die grosse Grammatik. Auch die grossen Religionen vermissen den respektvollen Kitt ihrer Frömmigkeit.
Diese Zerstörung der Integrität und die Isolation von Phänomenen aus ihren Zusammenhängen ist der Preis für eine präzise Untersuchung der Einzelteile. Allerdings folgt auf diese analytisch-phänomenologische Vorgehensweise fast immer eine bedeutungsgebende Untersuchung, welche Auswirkungen diese Bestandteile haben. Oft führt das zu «Kompost»-Situationen, dem Zerlegen in kleine Bestandteile und Neu- Komponieren mit nachvollziehbaren Ordnungen. So geschieht eine Annäherung an das kompakte System des Animisten, aber oft mit utilitaristischer Brille. Mit der Absicht, sich möglichst viel einzuverleiben, will dieses Individuum mit niemandem teilen. Immer mehr höchst effiziente Gedankengänge und Apparate werden entwickelt, raffiniert und immer weiter entfernt vom Respekt und vom Einfühlungsvermögen. Aus einem Gemeinschaftswesen Mensch wird ein separierter Einzelkämpfer, hocheffizient, aber gefüttert mit Empfindungsersatz. Schon die Religionen haben ihm die Würde gestohlen und durch einen strafenden Zensor im Kopf ersetzt. Andererseits hat uns der erste Hauptsatz zur Thermodynamik mit Zwischenschritten den Kühlschrank und die Eisenbahn geschenkt, ja den gesamten Fortschritt mit einer hochentwickelten Medizin und reichen Geisteswissenschaften.
Die masonische Esoterik
Sie sind das grosse Werkzeug, mit dem hilfreiche und sinnstiftende Konzepte entwickelt werden, die das Zusammenleben sehr vieler Menschen gestatten und auch unsere Fehler der Ausbeutung offenlegen, um Änderungen zu ermöglichen. Aber die Wissenschaft wird auch zum Instrument einer Gesellschaftsstruktur, die den Profit zur Religion erklärt und den Animismus unterminiert, indem sie ihn als esoterischen Modeartikel verkauft.
Die freimaurerische Esoterik hat das Potential zum Noblen des Animismus. Es ist dies das Teilen aus tiefem Respekt vor der Gesamtheit, im Begreifen des voneinander abhängigen Bestehens jeder Existenz. Die Aufforderung zum freien Denken gibt dem Menschen auch die Würde zurück und damit den Raum zum sinnstiftenden Handeln.