Bruder sein – was heisst das?

Die Bruderschaft bedeutet uns Freimaurern viel. Sie kann uns bereichern, beflügeln, von Kummer befreien. Sie ist uns aber nicht in den Schoss gelegt. Es gilt, sie bewusst zu gestalten und auch Konflikte anzugehen. Einige Aspekte zu einem faszinierenden Thema.

Der niederländische Maler Vincent van Gogh (1853–1890) schrieb: «Die Liebe zwischen Brüdern ist eine starke Stütze im Leben.» Er hatte es so erlebt: Sein Bruder Theo half ihm, wo er nur konnte, mit Geld, Zuspruch, dann und wann mit Bilderverkäufen. Ohne Theo wäre van Goghs Schaffen kaum möglich gewesen. Der Freimaurer erlebt eine zusätzliche Form der Brüderlichkeit. Diese geht bis ins Spirituelle.

Das Undenkbare verwirklichen

Der deutsche Aussenminister Gustav Stresemann und sein französischer Amtskollege Aristide Briand unterschreiben am 16. Oktober 1925 den Vertrag von Locarno. Ein Jahr darauf wird Deutschland in den Völkerbund aufgenommen. Beides Ereignisse, die sich niemand zuvor hätte träumen lassen. Die beiden Länder, erbitterte Gegner des Ersten Weltkriegs, schliessen Verträge ab. Deutschland nimmt von jeglicher Aggression Abstand. Die Briten räumen das Rheinland. Beide Politiker erhalten im Dezember 1926 den Friedensnobelpreis. Und beide sind Freimaurer.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität: Wer solchen Idealen folgt, mag als Don Quijote belächelt werden.

Stresemann und Briand leisten etwas, was vor ihnen schon andere Brüder getan haben: Sie verwirklichen Undenkbares. Es gibt eine ganze Zahl solcher Ereignisse. Legendär sind Episoden aus dem amerikanischen Bürgerkrieg geworden. Gegnerische Offiziere und Soldaten halten im Feld gemeinsam maurerische Arbeiten ab. Sie wissen: Wenn das bekannt wird, drohen Kriegsgericht und Erschiessung wegen Hochverrats. Aber sie tun es trotzdem. Die Brüder überwinden profane Schranken – wie bereits im 18. Jh., wo ihre Ideale z. T. der gesellschaftlichen Realität gegenüberstanden.

Werte-orientiert leben

All diesen Männern geht es um Werte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität. Wer solchen Idealen folgt, mag als Don Quijote belächelt werden. Unsere Welt ist bis auf die Ebene menschlicher Beziehungen durchökonomisiert. Man kennt von allem den Preis, aber nicht den Wert. Das kostet einen Freimaurer Kraft. Indem er Bruder anderer Brüder ist, kann er diese Kraft neu gewinnen.

Der Bruder misst sich an den maurerischen Tugenden. Er ficht im Namen der Freiheit gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Er strebt die Gleichheit vor dem Gesetz an und bemüht sich, Klassenunterschiede abzubauen. Die Toleranz zeigt sich in der Offenheit für andere Meinungen. Die Humanität betrifft die Würde des Menschen. Eine ausgeprägte Werthaltung könnte dazu verführen, sich einer Gesinnungsethik zu verschreiben, in der die gute Absicht mehr zählt als das konkrete Ergebnis. Es ist für den Freimaurer um so wichtiger, sich der Verantwortungsethik zu verpflichten, also für das Resultat einzustehen.

Sich der Traditionen bewusst sein

Wenn es um die Ursprünge der Freimaurerei geht, hat man früher weit zurückgegriffen, u. a. bis ins alte Ägypten, ins alte China und zu den Eleusinischen Mysterien. Heute, so der Österreicher Historiker und Freimaurer Helmut Reinalter, «stehen in der masonischen Historiographie stärker die westeuropäischen Gilden-, Maurer- und Steinmetzzünfte, Kathedralenbaumeister, Wandergesellen, Tempelritter, Mönchsorden und die frühen Akademien sowie aufgeklärten Sozietäten und Rosenkreuzer im Vordergrund der historischen Überlegungen.» Das sind Gemeinschaften, in denen die Brüderlichkeit eine grosse Rolle spielt.

Im 18. Jahrhundert erlebt die Maurerei einen wahren Boom. Nach der Gründung der ersten Grossloge 1717 in London und Andersons «Constitutions» von 1723 entstehen 1730 die irische Grossloge, 1735 die französische, 1736 die schottische, 1737 die erste deutsche Freimaurervereinigung, die «Loge de Hambourg». Dieses Wachstum passt inein Jahrhundert der, so Reinalters Formulierung, «Aufklärungsgesellschaften ». Deren Mitglieder identifizieren sich, bei allen Unterschieden, nicht zuletzt über eine enger oder weiter verstandene Brüderlichkeit.

Das Geheimnis teilen

Der Bruder lebt in drei konzentrischen Kreisen: im innersten, der Tempelarbeit, dann in der Konferenz und schliesslich im profanen Alltag. Brüderlichkeit gilt in allen drei und schmiedet zusammen. Tiefe des Verhältnisses und Verschworenheit lassen weniger von «Freunden» als von «Brüdern» sprechen. Den esoterischen Kern der Maurerei findet man weder im Internet noch in Büchern. Dass man diesen Kern überhaupt sprachlich fassen kann, ist zu bezweifeln. Auf jeden Fall liegt er unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Das Schweigen macht das Verschwiegene noch wertvoller. Man kennt das aus spirituellen Schulen wie jenen der Kartäuser und Trappisten. Schweigen führt zur Essenz. Und gemeinsam schweigen kann eine ebenso intensive Erfahrung sein wie gemeinsam reden.

Einen Verwandten kann man sich nicht aussuchen. Aber für einen Bruder im masonischen Sinn entscheidet man sich letztlich.

Seines Bruders Hüter sein

Über den Begriff des Bruders definieren sich die Mitglieder vieler Kulturen bzw. Subkulturen. So gibt es die Waffenbrüder im Militär und die Farbenbrüder in den Studentenverbindungen. Blutsbrüder gäben für den anderen das Leben. Einen Verwandten kann man sich nicht aussuchen. Aber für einen Bruder im masonischen Sinn entscheidet man sich letztlich.

Im Alten Testament heisst es, nachdem Kain seinen Bruder Abel getötet hat: «Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiss nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?» Der Freimaurer wird antworten: «Ja, das sollst du.» Es geht auch in der masonischen Bruderschaft um Wertschätzung, Empathie und Verbindlichkeit. In den Alten Pflichten heisst es: Man solle «brüderliche Liebe» üben, «den Grund- und Schlussstein, den Kitt und Ruhm der alten Bruderschaft». Beethoven hat das Ideal einer umfassenden, die individuellen Verhältnisse übersteigenden Bruderschaft in der 9. Sinfonie auf den Punkt gebracht: «Alle Menschen werden Brüder». Mozarts «In diesen heil’gen Hallen» in der «Zauberflöte » öffnet denselben Horizont. Und Andreas Michael Ramsay, Mitglied der Royal Society, erwähnt schon 1737 vor der französischen Grossloge «die erhabenen Grundsätze der Tugend, der Wissenschaft, der Religion, in welchen das Interesse der Bruderschaft zum Interesse des ganzen menschlichen Geschlechts wird».

Eine Konfliktkultur entwickeln

Wenn es um Bruderschaft geht, kommen auch Konflikte ins Spiel. Diese sind an sich nichts Schlechtes. Sie ergeben sich von selbst. Schlecht kann nur der Umgang mit ihnen sein, wenn man sie verneint oder den Fehler beim anderen sucht, anstatt sich Gedanken über den eigenen Schatten zu machen. Konflikte sind Prüfsteine der Brüderlichkeit. Ja, sie können sie letzten Endes fördern.

Der antike Philosoph Seneca hat davon gesprochen: Man soll sich selbst ein Freund sein.

Bereits in den Alten Pflichten wird darauf eingegangen, was die Brüder im Fall eines Konflikts zu tun haben. Es geht in einer Eskalation von der Loge über die «Vierteljahresversammlung der Grossloge» bis an die «jährliche Grosse Loge». Vom Gericht solle man wenn möglich absehen. Brüderlicher Rat könne dieses ersetzen. Falls es zum Prozess komme, gelte es, diesen «ohne Grimm und Erbitterung» zu führen. Am Schluss gehe es um die «Erneuerung oder Fortsetzung brüderlicher Liebe und guter Dienste».

Sich selbst Bruder sein

Der antike Philosoph Seneca hat davon gesprochen: Man soll sich selbst ein Freund sein. Es könnte statt vom Freund auch vom Bruder gesprochen werden. Alle angeführten Punkte gelten ebenfalls hier: vom Verwirklichen des Undenkbaren bis zur Konfliktkultur. Der Lehrlingsgrad, zu dem wir immer wieder zurückkehren, gehorcht ja dem «Schau in dich». Letztlich ist jeder Bruder persönlich für seinen Quest, seinen Weg der Individuation, verantwortlich. Aber er ist nicht allein. T.M.