Aufschliessende Kraft
Für uns Freimaurer wäre die königliche Kunst ohne sie undenkbar. Sie sind so alt wie die Menschheit, und es geht von ihnen eine besondere Kraft aus: die Symbole. Die lebenslange Arbeit an uns selbst und unser maurerischer Werdegang von Grad zu Grad sind eng mit ihnen verknüpft. Dabei erfahren wir, dass sich unsere Symbole nie gänzlich ausschöpfen lassen.
Unser Begriff des Symbols geht auf den altgriechischen Begriff für ein Erkennungszeichen zurück: «symbolon». Trennten sich zwei Parteien und ging es darum, sich oder die Vertreter der eigenen Seite später auszuweisen, so nutzte man ein praktisches Verfahren. Man zerbrach einen Gegenstand in zwei Teile, etwa eine Münze, einen Knochen oder ein Stück Ton. Liessen sich die beiden Elemente wieder zusammenfügen, so waren die Parteien legitimiert.
Weshalb lächelt Mona Lisa?
Symbole unterscheiden sich grundlegend vom Zeichen. Dieses beruht auf Abmachungen, ist rational und entsprechend für den Intellekt gedacht. Zeichen spielen etwa in der Mathematik und den Naturwissenschaften eine wichtige Rolle. Das Symbol hingegen geht über das Rationale hinaus und ist mit Emotionen verknüpft. So spricht es ein ganzheitliches Denken an. Hinzu kommt, dass es auf unsichtbare Wirklichkeiten hinweisen und damit spirituellen Charakter haben kann. Es spielt in den Geisteswissenschaften, in der Kunst und der Religion eine zentrale Rolle – und auch in der Freimaurerei, die ohne es nicht denkbar wäre.
Mit dem Symbol ist eine schöpferische Energie verbunden.
Das Symbol verweist vom Konkreten auf Abstraktes, und es bringt Abstraktes in eine konkrete Form. Es kann aufklären, wenn Menschen es miteinander teilen. Es kann aber auch verhüllen, wenn es Teil einer esoterischen, anderen nicht zugänglichen Welt ist. Es schärft die Sinne und kann zwischen Zeitaltern und Menschen eine Brücke schlagen. Goethe hat davon gesprochen, dass es eine „aufschliessende Kraft“ besitze. Es ist nie gänzlich fassbar. Das zeigt sich gerade im Kunstwerk: Man denke an die Frage, weshalb Leonardos Mona Lisa lächelt. Die Spekulationen darüber füllen Bände, doch eine endgültige Begründung liegt nicht vor. Hier zeigt sich eine Eigenschaft des Symbols. Reduzierte man dessen Bedeutung auf ein „Das ist nichts als …“, machte man es zunichte. In anderen Worten: Mona Lisa hätte ihre Faszination verloren.
Zutiefst menschlich
Der deutsche Philosoph Ernst Cassirer (1874–1945) spricht davon, dass der Mensch das „animal symbolicum“ sei. Unsere Existenz sei eng mit der Welt der Symbole verbunden, und wir seien symbolbildende und -verwendende Wesen. Eine zentrale Rolle spielt das Symbol auch im Denken des Schweizer Psychiaters C. G. Jung (1875–1961). Der Begründer der analytischen Pychologie greift das Bild des „symbolon“ auf und spricht davon, dass das Symbol das Unterbewusste und das Bewusste verbinde. Nach Jung entstehen Symbole nicht in einem bewussten Akt. Vielmehr stammten sie aus dem kollektiven Unbewussten und teilten dem Bewussten etwas Unbekanntes mit. Diese Botschaften seien oftmals der Schlüssel zur Ganzwerdung bzw. Individuation. Dem entspricht die Formel «Werde, der du bist!»
Diese Prozesse sind nach Jung eng mit den Archetypen verknüpft. Er hat den Begriff nie endgültig definiert. Archetypen lassen sich als Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster verstehen. Sie sind als solche unanschaulich und unbewusst, zeigen sich jedoch in Träumen, Visionen, Märchen und Mythen, aber auch in Psychosen. Beispiele sind „Held“, „Vater“ und „göttliches Kind“.
Grosse Sinnfülle
Mit dem Symbol ist eine schöpferische Energie verbunden. Was sein könnte, wird Fakt. Das ist auch ein Grundmerkmal der maurerischen Symbole. Diese verdanken sich unterschiedlichen Einflüssen, u. a. der Alchemie, den hermetischen Lehren und dem Brauchtum der alten Steinmetzbruderschaften, das in allen Obödienzen eine zentrale Rolle spielt. Hierzu gehören Zirkel, Winkelmass und Senkblei, Wasserwaage und 24zölliger Massstab.
Wie alle anderen Symbole sind auch unsere mit einer Fülle von Assoziationen verbunden. Diese laufen einerseits dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit zuwider. Andererseits ermöglichen sie eine grosse Sinnfülle. Sollen Symbole ihre Wirkung entfalten, so bedürfen sie der Bereitschaft des einzelnen Bruders, sich auf sie einzulassen. Man könnte auch von einer gewissen Affinität zum Symbolischen sprechen. Zudem gilt es Augenmass zu entwickeln, um zwischen einer Unter- und einer Überbewertung des Symbols einen Weg zu finden. Unsere Symbole umfassen und ordnen im Idealfall unsere ganze Existenz. Sie beeinflussen unsere rationalen, emotionalen und spirituellen Kräfte und mit diesen unsere Vorstellungen und Verhaltensweisen. Das zeigt die Arbeit am rauen Stein ebenso wie der Bau am Tempel der Humanität.
Symbole schaffen Struktur
Eine Eigenheit der maurerischen Symbole besteht darin, dass wir sie erst in der Adoleszenz kennenlernen. Entsprechend sind sie auf grosse Wirksamkeit angelegt. Sie bilden einen wunderbaren Speicher für Bedeutungen und Erfahrungsmöglichkeiten. Dieser Schatz an Worten, Bildern und Handlungen, an Zahlen und weiteren Elementen bringt neue Symbole in unser Leben. Zudem verstärkt er den Zusammenhalt nach innen, in der Bruderkette, und die Abgrenzung nach aussen, zu der die Verschwiegenheit noch beiträgt. Die masonischen Symbole bilden eine Grenze zwischen der profanen und der maurerischen Welt.
Der französische Ethnologe Arnold van Genep (1873– 1957) hat den Begriff des Übergangsritus, des „rîte de passage“, geprägt. Er spricht von den Trennungs-, den Übergangs- oder Schwellen- sowie den Angliederungsriten. Dieses Modell wendet er z. B. auf Änderungen des Lebensalters, des Status oder der beruflichen Stellung an. Dabei führt er zwei Begriffe an, die uns Freimaurer aufhorchen lassen: Tod und Geburt.
Unsere Symbole und Rituale entsprechen oft der Struktur, die van Genep formuliert. Ein Beispiel ist die Initiation. Der Neophyt durchlebt die Trennung vom bisherigen Leben. Das entspricht dem Tod. Es folgt der Übergang in der Kammer des stillen Nachdenkens. Im Rahmen der Angliederung erhält er schliesslich das maurerische Licht. Das entspricht der Geburt. Der Aufgenommene erhält einen Namen und ein Alter. Er wird in Zeichen, Wort und Griff und weitere Elemente eingeführt. Diesen komplexen Vorgang in einfache, aber nie simple Form zu fassen vermag einzig das Symbol. Es trägt wesentlich dazu bei, dass unsere maurerische Kunst eine königliche ist. T. M.