«Auf Ehre und Gewissen»
Für manche Leute mag es anachronistisch anmuten, noch heute ein mündliches Gelöbnis abzulegen. Das ist aber zu kurz gefasst. Es spielt in der Freimaurerei nach wie vor – oder erst recht – eine wichtige Rolle. Der A∴ B∴ A∴ W∴, die Familie und der Staat werden dabei ebenso berücksichtigt wie Verpflichtungen gegenüber der Loge und den Brüdern sowie die Arkandisziplin. Das Gelöbnis deckt so die Aspekte eines Maurerlebens ab.
von Br∴ H. F., Alt-M∴ v∴ St∴ der Loge St. Johann am Rhein i∴ O∴ Schaffhausen
Je nach Ritus und Obödienz wird auch von Eid, Verpflichtung, Bekenntnis oder Gelöbnis gesprochen. In den Aufnahmeritualen der Schweizer Logen hat der Neophyt das Gelübde abzulegen. Auch bei der Beförderung und der Erhebung müssen solche abgelegt werden. Beide unterscheiden sich jedoch inhaltlich von jenem des Aufnahmerituals. Aus Gründen der Diskretion können sie hier allerdings nicht behandelt werden.
Keine Kenntnis im Voraus
Von der Einführung des Neophyten in den Tempel bis zur Lichterteilung findet eine stetige dramaturgische Steigerung statt. Das Ablegen des Gelübdes erfolgt unmittelbar nach den Reisen. Der Neophyt tut das mit verbundenen Augen vor dem Altar, indem er seine rechte, vom Handschuh entblösste Hand auf die drei grossen Lichter legt. Dies ist letztlich die Voraussetzung zur Maurerweihe, die mit der Lichterteilung, dem Höhepunkt der Initiation, endet. Besiegelt wird die Maurerweihe durch die Einbindung des neuen Freimaurerlehrlings in die Bruderkette. Anschliessend folgen die mündlichen Instruktionen über den Schritt sowie über Zeichen, Wort und Griff. Diese grundlegenden Geheimnisse gehören zum arkanen Wissen, das immer nur mündlich instruiert wird.
Es ist vermutlich jedem Neophyten bei der Aufnahme ähnlich ergangen: Er hatte ein Gelübde abzulegen, von dessen Inhalt er im Voraus keine Kenntnis hatte. In der heutigen Zeit mag es unverständlich sein, dass man sozusagen die «Katze im Sack kaufen muss». Aber der M∴ v∴ St∴ versichert dem Neophyten unmittelbar vor dem Ablegen des Gelübdes doch noch, «dass das Gelübde nichts enthält, was die Verpflichtung gegenüber der Familie, der Gesellschaft oder dem Vaterland verletzen könnte.» Diese erlösende Aussage nimmt wohl jedem Neophyten einen Teil der grossen Anspannung während des Rituals – sorgen doch schon die vielen anderen unbekannten Ereignisse für psychische Strapazen.
Eine ernste Angelegenheit
Der Neophyt wird vom M∴ v∴ St∴ noch ein letztes Mal gefragt, ob er immer noch begehre, in den Bund aufgenommen zu werden. Noch hätte er die Möglichkeit, nein zu sagen. Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob von dieser Option jemals Gebrauch gemacht worden ist.
Dass das Ablegen des Gelübdes eine ernste Angelegenheit ist, zeigt sich darin, dass der Neophyt wie angesprochen seine rechte Hand auf Winkelmass, Zirkel und Bibel auf dem Altar legen muss. Zudem befiehlt der M∴ v∴ St∴ «Zur Ordnung, meine Brüder!» Diese Aufforderung wird jedoch in einem Ritual nur bei «heiligen» Handlungen wie beispielsweise dem Anzünden der Lichter oder dem Anrufen des A∴ B∴ A∴ W∴ ausgesprochen. Wenn der Neophyt nach dem Vorlesen des Gelübdes bereit ist, dieses abzulegen, antwortet er: «Dies gelobe ich auf Ehre und Gewissen.»
Man darf sich zu Recht fragen, ob das Aussprechen eines mündlichen Gelübdes noch von Bedeutung ist, wo doch in der heutigen Zeit praktisch alles schriftlich belegt werden muss
Vier Schritte
Das Gelübde des Aufnahmerituals besteht aus vier Abschnitten. Im ersten Abschnitt werden die persönlichen Pflichten angesprochen, die jeder Freimaurer gegenüber seiner Familie und als Bürger sowie als Mensch zu erfüllen hat. Hinzu kommt, dass er auch die Überzeugungen seiner Mitmenschen zu achten hat. Letztlich soll er nach Wahrheit streben und in seiner Selbstveredlung nie erlahmen. Es werden so die sozialen und die humanitären Verpflichtungen thematisiert.
Im zweiten, kurzen Abschnitt geht es einerseits darum, den Konferenzen, Instruktionen und Tempelarbeiten nicht ohne zwingende Gründe fernzubleiben. Andererseits wird empfohlen, an allen Arbeiten nach besten Kräften mitzuwirken. Es liegt auf der Hand, dass man sich mit der Lehrart des Freimaurerbundes nur vertraut machen kann, wenn man an den Arbeiten in der Loge teilnimmt. Im dritten Abschnitt geht es um das Einhalten der Gesetze des Freimaurerbundes und die Bereitschaft, sich für das Gedeihen der Loge einzusetzen und den Brüdern mit Rat und Tat beizustehen. Dabei wird betont, dass dies nur so weit gehen kann, wie es die Pflichten gegenüber dem A∴ B∴ A∴ W∴, der Familie und dem Vaterland gestatten. Das bedeutet, dass man sich bei seinem persönlichen Einsatz für die Loge und die Brüder nicht übernehmen soll und jeder Bruder auf seine Art und nach seinen Möglichkeiten zu handeln hat.
Beim vierten Abschnitt des Gelübdes geht es insbesondere um die sogenannte Arkandisziplin. Weder die Gebräuche der Freimaurerei noch die Besonderheiten der Grade sollen offenbart werden. Zudem gilt es, eine würdige Verschwiegenheit über alle Aktivitäten der Loge zu wahren. Das gehört zur Arkandisziplin, der zufolge die Brüder Freimaurer die in den Ritualen angesprochenen Sinnzusammenhänge nicht leichtfertig und zusammenhanglos jedem und jederzeit preisgeben sollen.
Dies ist eine weise Praxis. Sie erlaubt es, die zentralen Geheimnisse der Rituale seit Jahrhunderten mehr oder weniger zu wahren. Man muss aber realistisch sein: Im Zeitalter der Kommunikation und des Internets gibt es kaum mehr Geheimnisse über unseren Bund. Und leider geben diese wenigen weissen Flecken auf der Landkarte immer wieder Anlass zu den verschiedensten Verschwörungstheorien.
Kritische Beurteilung
Das Gelübde ist die entscheidende Hürde, die es zu nehmen gilt, um in den Freimaurerbund aufgenommen zu werden. Man darf sich zu Recht fragen, ob das Aussprechen eines mündlichen Gelübdes noch von Bedeutung ist, wo doch in der heutigen Zeit praktisch alles schriftlich belegt werden muss. Ein solches Gelübde mag anachronistisch anmuten. Aber gerade die Tatsache, dass es bei der Aufnahme verlangt wird und dass es der Neophyt «auf Ehre und Gewissen» mündlich geloben muss, erhöht die Bedeutung des gesprochenen Wortes.
Das Gelübde entspricht – profan formuliert – einem Ehrenkodex. Der neu aufgenommene Bruder soll sich als ein freier Mann verstehen, der Wort hält. Wie nachhaltig die Wirkung im profanen Leben über die Initiation hinaus sein mag, ist individuell. Es mag Brüder geben, die sich mit dem zweiten Abschnitt schwerer tun als andere. Doch letztlich stellt das Gelübde für jedes Logenmitglied einen weisen Orientierungsrahmen dar.