Harmonia mundi
Ein biblisches Alter: Der St. Galler Künstler und Freimaurer Walther Büsser ist 94 Jahre alt geworden. Noch immer arbeitet er mit aussergewöhnlich ruhiger Hand. Wer ihn in seinem Zimmer im Altersheim besucht, sieht sich in einen wahren Mikrokosmos versetzt. Farben und Formen, Sprache und Wissenschaft, Handwerk und Freimaurerei stehen zueinander in vielerlei Bezügen. Das schliesst auch den Tod mit ein.
Thomas Müller: Lieber Br. Walther, wie bist du zur Malerei gekommen?
Walther Büsser: Ich machte zunächst eine Lehre als Heizungstechniker. Doch sie sagte mir überhaupt nicht zu. Mein Vater vertrat die Meinung: Was man angefangen hat, das macht man auch fertig. Also schloss ich die Lehre ab. Als ich daraufhin Grafiker werden und die Kunstgewerbeschule St. Gallen besuchen wollte, war er einverstanden. Nach zwei Jahren Praktikum absolvierte ich die Kunstgewerbeschule. Sie dauerte fünf Jahre. Anschliessend ging ich nach Paris und besuchte dort vier Semester lang die Ecole des Beaux-Arts. Dort vermittelte mir ein Inder, der als Jesus-Modell arbeitete, die Grundlagen des Buddhismus. Zurück in der Schweiz, gründete ich ein Werbeatelier. Nach mühsamen Anfängen lief es gut, und das 50 Jahre lang. Ich habe insgesamt 14 Lehrlinge ausgebildet. Seit fünf Jahren bin ich nun im Altersheim. Hier habe ich wieder intensiv zu malen begonnen. Vor zwei Jahren nahm ich an einer Gruppenausstellung teil, und heute hängen mehrere meiner Bilder hier in der Caféteria.
Was die Malerei anbelangt, stelle ich eine gewisse Übersättigung fest. Das ist schade. Denn die Kunst hat eine tiefe Bedeutung. Sie macht Ideen sichtbar. Alles Leben beruht schliesslich auf einem Gedanken. Dass auch der Mensch denken und so eine bestimmte Realität schaffen kann, bedeutet einen göttlichen Aspekt in uns selbst.
«Malen ist für mich wie Musizieren»
T. M.: Wie siehst du deine Malerei im konkreten Sinn?
W. B.: Ich ordne der Darstellung ein Sujet zu, das sich in lineare, geometrisch-flächige Kompositionen und Farbfelder auflöst. Malen ist für mich wie Musizieren, deshalb spreche ich von Farb-Musik: In sich geschlossene Farbbezirke werden als Ganzes harmonisch zueinander in Bezug gesetzt. Ich male auch Bilder mit rein sprachlichen Elementen, z. B. einem Platon-Zitat. Schliesslich mache ich seit langer Zeit meine Karten zum Jahreswechsel. Sie haben ein graphisches Element, einen Wahlspruch und eine Art Kommentar.
T. M.: Sehe ich das richtig, dass dir die Sprache viel bedeutet?
W. B.: Ja. Es ist mir wichtig, mit einem Gegenüber zu reden. Das kann auch eine Katze sein wie meine, die mit 26 Jahren gestorben ist. Ich konnte mich mit ihr unterhalten. Zudem schreibe ich Texte aller Art. Diese reichen von Erlebnissen im Tessin bis zur Geschichte einer Fliege namens Hektor, die wir zum Haustier ernannten. Ich nahm einmal an einem Schreibwettbewerb der Bank Vontobel teil. Das Thema war «Noch einmal 16 sein», und ich gewann einen Preis. Gern würde ich einmal eine Selbstbetrachtung verfassen.
T. M.: Du hast aber noch andere Tätigkeiten, die dir viel bedeuten.
W. B.: Ja. Ich habe Münzen geprägt, u. a. für den WWF. Von daher die beiden Mikroskope in meinem Zimmer. Zudem habe ich mich als Paläograph betätigt. Ich untersuchte romanische und germanische Schriften.
T. M.: Was dir einen Ehrendoktor eingebracht hat …
W. B.: Ja, den hat mir die Universität Paris im Jahr 1977 verliehen.
T. M.: Ich möchte zu einem anderen deiner Lebensthemen übergehen, zur Freimaurerei. Wie sind deine masonische Vita aus, und was bedeutet dir die Freimaurerei?
W. B.: Ich wurde 1977 in die St. Galler Loge «Humanitas in Libertate» aufgenommen. Später trat ich der ebenfalls im Orient St. Gallen arbeitenden Loge «Bauplan» bei. Mein Pate hatte mich dazu eingeladen. Beamtungen hatte ich nie. Allerdings durfte ich die Logos des «Bauplans» und des Vereins der Freunde der Bibliotheca Masonica Belz in St. Gallen gestalten. Wenn man es genau nimmt, vertrat ich schon als Junge bestimmte maurerische Überzeugungen. Ich denke v. a. an die Toleranz. Mir war es schleierhaft, weshalb sich in meiner Umgebung Reformierte und Katholiken derart in den Haaren liegen konnten. Heute beziehe ich das auf die Weltreligionen. Wir haben ja schliesslich alle denselben Schöpfer. Ich habe mich intensiv mit dem Thema «Zeit» auseinandergesetzt. Das Resultat war ein Bauriss, den ich in mehreren Logen vortrug. Darin steht mein Motto: «Wenn die Zeit da ist, kommt alles von selbst.» In meinen Augen gibt es übrigens auch Maurer ohne Schurz. Zu diesen zählen König David, Diogenes oder Galileo Galilei.
T. M.: Wenn ich mit dir rede und mich in deinem Zimmer umschaue, so kommt mir immer das gleiche Wort in den Sinn: Kosmos. Lassen sich deine Lebensthemen mit diesem Begriff fassen?
W. B.: Durchaus. Alle Phänomene sind aufeinander bezogen, stehen zueinander in einer tiefen Harmonie. Da ist das Individuum mit seinem Mikrokosmos, dann unser Universum, des weiteren alle Universen. Wenn ein Universum explodiert, entsteht ein neues. Ich war übrigens 50 Jahre lang Mitglied der Schweizerischen Astronomischen Gesellschaft und habe mich u. a. mit der Himmelsmechanik befasst.
T. M.: Du hast eine Karte gestaltet, die für deine Freunde nach deinem Ableben gedacht ist. Was ist auf ihr zu sehen?
W. B.: Ein Selbstporträt und der Satz «Zeit meines Lebens war ich ein Lehrling, und ich werde es wohl auch im Ewigen Osten wieder sein, da wo die Sonne immer von neuem aufgeht.»