«Freundschaft: Krönung der Gesellschaft»
Montaigne über die Freundschaft, Essay 38
Freundschaft lässt sich nicht erzwingen – sie ist einfach. Die Freundschaft baut auf den gleichen Idealen auf wie die Bruderschaft: vor allem das Wohlwollen gegenüber allen Mitmenschen sowie das Vertrauen in das Gute im Menschen.
L. R. – Humanitas in Libertate, St. Gallen (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Oktober 2008)
Der Montagabend gehört der Loge. Gut zwei Dutzend Brüder haben sich versammelt, um die Zeichnung eines Mitbruders zu vernehmen und anschliessend im Gespräch dessen Aussagen zu vertiefen. Die Chancen für einen gelingenden Abend stehen heute gut. Die Brüder sind «aufgeräumt» zur Konferenz gekommen; sie haben die Turbulenzen des Alltags hinter sich gelassen. Ein Glücksfall, wenn sich ein Dialog ergibt: eine Bereicherung für jeden, ob er nun zuhört oder sich zu Wort meldet! Kritik wird nicht um der Kritik willen angebracht, und es entsteht auch nicht jener oft verletzende Diskurs, wie man ihn tagtäglich erlebt, dann nämlich, wenn keiner der Gesprächspartner auch nur ein Yota von seinem vorgefassten Urteil abzuweichen gedenkt. Wir aber haben das Bedürfnis, die richtige Antwort zu finden… Und ich ? Ich sitze mitten drin, und plötzlich werde ich von einem hellen Licht, von der Einsicht überwältigt: Mir ist so wohl ! Ich liebe euch alle ! Ein wunderbares Gefühl, kaum beschreibbar, ein Geheimnis meines Herzens, das niemand sonst kennt. Dies ist der Augenblick der Seligkeit, der Freude (wobei die Dauer eines Augenblicks unbestimmt ist; er kann Sekunden, Stunden oder Tage dauern). Mein Pate, Hans Heierli, hatte mir anlässlich meiner Aufnahme in die «Humanitas in Libertate» folgende Worte mitgegeben: «Ich wünsche dir, dass du dich hier wohl fühlst»; der Wunsch erfüllte sich, und darum habe ich diesen Wunsch später gerne meinen Patensöhnen anlässlich ihrer Initiation weitergegeben.
Wie aber entsteht dieses Wohlgefühl ? Und wie kann es wiederkehren ? Mehrere Antworten sind möglich: Es mag erstens an mir liegen, dann nämlich, wenn ich mit mir selbst im Lot bin; vielleicht haben mich zweitens die Rituale der Freimaurerei im allgemeinen und meiner Loge im Besondern erneut angerührt; ganz gewiss aber ist es drittens die Wirkungskraft der Bruderschaft, die uns dieses Glücksgefühl schenkt, die Haltung der Brüder, deren gemeinsamer Wunsch es ist, den Weg zum Licht zu finden.
Dies lässt den Schluss zu, dass genau diese Verbundenheit der Brüder untereinander das Geheimnis der Freimaurerei begründet (was so manche Aussenstehende schlecht begreifen) und dass das gegenseitige Vertrauen die Brücke von Bruder zu Bruder bildet. Als leiblicher Bruder wurde man in eine Familie hinein geboren, ein Ereignis, das jeden von uns schicksalhaft prägt. Dies ist jedoch nicht der Bruder, wie ihn die Freimaurerei versteht. Für sie ist er Mitglied ihrer Bruderschaft. Wie alle Sonderformen innerhalb der Gesellschaft hat diese ein Eigenleben, eine Homogenität entwickelt; sie springt auf den einzelnen Bruder über, und sie wird schliesslich auch von Dritten wahrgenommen bzw. «erfühlt». Entscheidend ist die Initiation. Freimaurer wird man aus eigenem Entschluss; doch sobald der entscheidende Schritt getan ist, wird er sich den geschriebenen und ungeschriebenen «Gesetzen» der Loge einfügen. Das heisst: Man wird zum Bruder bestimmt, indem man ihn einweiht. «Bruder sei von nun an dein Name», heisst es im Ritual, nachdem er zuvor mit seinem bürgerlichen Namen, dann als «Freund» angesprochen worden war. Mit der Eingliederung in die Bruderkette erhält er seinen neuen Namen: «Bruder», und er gehört unwiderruflich zu uns. Seine Brüder sprechen ihn mit «Du» an, und er kann sogleich mit der «Arbeit» beginnen. Die Bruderschaft ist etwas «Heiliges», sie integriert ihr neues Mitglied, sie beschützt und stützt es, hilft ihm in Notzeiten aber fördert auch – unterstützt vom Paten – dessen geistige und moralische Entfaltung. Schritt für Schritt, von Stufe zu Stufe wird er selbstsicherer, und, nachdem er bisher ein vor allem Empfangender war, soll seine Bereitschaft wachsen, den Brüdern im Rahmen seiner Fähigkeiten etwas von seiner Substanz weiter zu geben, ihnen beizustehen, gegebenenfalls ein Amt zu übernehmen. Er soll aber auch lernen, brüderliche Hilfe zu akzeptieren, wenn er solcher bedarf (was uns auf Erfolg und Selbstverantwortung getrimmten Männern oft schwer fällt).
Nun aber heisst es «mein Bruder, mein Freund»! Wird damit eine Steigerung, eine Weiterentwicklung der Bruderschaft angedeutet? Sind die Begriffe «Bruder» und «Freund» deckungsgleich, oder worin unterscheiden sie sich? In Andersons «Konstitution» wird Freundschaft als Höhepunkt, ja als eigentlicher Zweck unseres Ordens bezeichnet. Die Loge fördert die Verbundenheit unter den Brüdern. Gegenseitige Achtung ist von jeher eines der wesentlichen Ziele der Freimaurerei. Michel de Montaigne (1537-1592) schrieb in seinem wunderbaren Essai «über die Freundschaft»: «Zu nichts scheint die Natur den Menschen mehr bestimmt zu haben, denn zu einem gesellschaftlichen Wesen». Schon Aristoteles sei für den rechtlichen Schutz der Freundschaft eingestanden, Montaigne kommt zum beeindruckenden Schluss: «Freundschaft bildet die Krönung der Gesellschaft». Nicht dem König, nicht der Kirche gebührt die Krone, sondern jenem Menschenpaar, das sich liebend in eine Ich-Du-Beziehung eingelassen hat.
Montaigne verarbeitete in seinem Essay die tiefer Trauer um seinen früh verstorbenen Freund Etienne de la Boétie. Das innige Verhältnis der beiden wurde für ihn zum Masstab, womit jede andere Freundschaft gemessen wird. Was man im allgemeinen von ihr halte, sei nichts anderes als lockere Bekanntschaft. «Bei der Freundschaft hingegen, von der ich spreche, verschmelzen zwei Seelen und gehen derart ineinander auf, dass sie sogar die Naht nicht mehr finden, die sie einte. Wenn man in mich drängte zu sagen, warum ich Etienne liebte, fühle ich, dass nur eine Antwort diese ausdrücken kann: Weil er er war, und weil ich ich war. Wir suchten uns, noch ehe wir uns gesehen haben. Andern aber bleibt das Geheimnis solcher Freundschaft verborgen, weil sie sich nicht vorstellen können, wie sich die Sache wirklich verhält. Unsere Seelen sind derart einträchtig im Gespann gegangen und haben sich mit derart glühender Liebe wechselseitig durchdrungen. Die vollendete Freundschaft, von der ich spreche, ist unteilbar. Sie ergreift vom ganzen Menschen Besitz und beherrscht ihn uneingeschränkt».
Freundschaft als Symbiose ? Brauchen wir Freunde, damit wir uns selbst besser kennen lernen können ? Bei Montaigne wurde der Freund zum alter ego; dieses begleitet ihn wie sein Schatten. «Wirklich gute Freunde sind Menschen, die uns genau kennen und trotzdem zu uns halten» (M. v.Ebner-Eschenbach). Sind Liebe (und damit auch die Freundschaft) eine Himmelsmacht ? Die Vorsokratiker sahen in ihr ein kosmologisches Ereignis, also etwas, das den courant normal stört. Für Platon erfüllte Freundschaft die Bestimmung des Menschen zu Ordnung, Besonnenheit, Anstand und Gerechtigkeit. Für seinen Schüler Aristoteles war sie so wichtig, dass er sie dem öffentlichen Schutz unterstellen wollte. Offenbar erkannte er die politische Komponente der «freien» Persönlichkeit, wirkten ihre Motive doch auch nach aussen: nämlich das Gute, das Nützliche und das Angenehme im Miteinander der Gesellschaft. Man kann schliesslich in der Freundschaft auch eine Form der Weisheit entdecken, fördert sie doch Vernunft, Toleranz und Sittlichkeit.
Freundschaft baut auf den gleichen Idealen auf wie die Bruderschaft: Vor allem das Wohlwollen gegenüber allen Mitmenschen, so wie es der «weltumspannenden Bruderkette» der Freimaurerei entspricht. Sie hat Vertrauen in das Gute im Menschen, wirkt solidarisch und achtet das Leben in allen seinen Facetten. Sie akzeptiert (wenn auch kritisch) die im profanen Alltag notwendige Disziplin, Autorität und Hierarchie – doch sie ist mehr ! Während ich als Freimaurer-Bruder – quasi per definitionem – am Kollektiv der Bruderschaft beteiligt bin, kann ich Freundschaft weder fordern, noch herbeizwingen. In einer Freundschaft ist gar nichts selbstverständlich! Alle Mitglieder der Loge sind meine Brüder; Freundschaft kann ich dagegen nicht gleichermassen von allen Beteiligten erwarten. Freundschaften müssen auch in der Freimaurerei wachsen, und immer sind Einzelbeziehungen. Jede Freundschaft ist anders als die andern, und auch ihre Entwicklung verläuft anders.
Der Philosoph Martin Buber hat Entscheidendes formuliert: dass nämlich unser Leben auf zwei Grundwerten, genauer auf zwei Wortpaaren aufbaut: der Welt des Ich – Du und der Welt des Ich – Es. Das Wortpaar Ich – Du trifft mein Wesen. «Die Welt der Erfahrungen gehört dem Grundwort Ich – Es an. Dem Grundwort Ich-Du verdanken wir die Welt der Beziehungen. In drei Sphären erleben wir die Welt dieser Beziehungen: Die erste ist die Natur; die zweite ist das Leben mit den Menschen, und die dritte ist das Leben mit den geistigen Wesenheiten. Die zweite Sphäre, jene der Beziehungen wird durch die Sprache geschaffen, die dritte ist sprachlos, jedoch sprachzeugend ! Dieses Gesetz finden wir in den «östlichen» Weisheitstexten wieder, z.B. im Tao te King des Laotse. Meine Freundschaften fussen also in der zweiten Sphäre, den Beziehungen, berühren aber auch die dritte Sphäre: als schattenhafte Erinnerung an die Begegnung mit dem Allerhöchsten.
Auch in der Weltliteratur erfahren wir von grossen Freundschaften, so im wohl ältesten Epos der Menschheit, der schmerzlich endenden Begegnung des Helden Gilgamesch mit Enkidu, oder in der tragischen Freundschaft zwischen David und Jehonathan, Sohn des Königs Saul. Davids Totenklage (2. Samuel 1,26): «Deinetwegen bin ich in Not, mein Bruder Jehonathan, du warst mir so lieb. Wunderbarer war deine Liebe für mich als die Liebe der Frauen».
Unsere Freundschaften mögen prosaischer und aus alltäglich unauffälligen Situationen entstanden sein, aber auch sie tragen Keime der Grösse in sich. Wahre Freundschaft ist nicht nach «Nutzen» berechenbar, sie ist auch kein Instrument, um Lebenserfolg und Gewinn zu erzielen. Die Frage: «Was bringt’s ?» ist obsolet. Freundschaft ist einfach, und sie steht jenseits eines Zweckes. Sie ist Nähe, wahrt aber zugleich respektvolle Distanz. Auch Schweigen-Können gehört dazu. Es ist ein Geben und Nehmen. Wenn du geliebt werden willst, liebe» (Seneca).
Im Wort «Liebe» bündeln sich ganz verschiedene Kräfte, Empfindungen und Gefühle. Manche sind unpersönlicher Natur: Triebe, Eros, Libido, Agape; andere gehören zu den persönlichen Erfahrungen. Die Verwirklichung dieser Liebe ist das edelste Werk des Menschen. «Durch die Augen erlangt die Liebe das Herz, denn die Augen sind des Herzens Späher» (aus einem mittelalterlichen Minnelied). Das Herz ist das Organ, mit dessen Hilfe man sich einem anderen öffnet. Und es schenkt mir die Einsicht: «Dies ist mein Leben !» Ähnliches erfährt der Mystiker als unio mystica: eins mit dem Ganzen.
Zu den Höhepunkten der Liebe gehört das Erleben einer Freundschaft. Jacobus, der Apostel, schrieb. «Wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht. Wer seinen Bruder aber hasst, bleibt in der Finsternis». Dort lauern übrigens allerlei falsche Freunde, Verführer oder Zyniker, die mit miesen Worten alles und jedes in den Schmutz ziehen und die ihre Mitmenschen, die guten Willens sind, zu verunsichern vermögen.
Was aber bedeuten Liebe und Freundschaft für junge Menschen ? Manche geben sich forsch und selbstsicher, denken in Nutzen, sind vorsichtig und vertrauen dem Computer mehr als dem Menschen. Sie grenzen das Private ab und weichen gerne länger bestehenden Bindungen aus. Aber sie sind sensibel, sie lieben die Musik, und eines Tages hören auch sie jene (leise) innere Stimme, die nach dem Sinn des Lebens fragt. Und sie haben ein unkompliziertes Verständnis für die Netzwerke, dank denen das moderne Leben funktioniert». Unsere grosse Chance ist es, ihnen die Freimaurerei als solides, belebendes Netzwerk bewusst zu machen, als eine beglückende Herausforderung: ein Stück Lebenskunst !
Bruder und Freund sein zu dürfen, gehört zu den Glücksgütern des Menschen. Sie erleben zu dürfen, lässt uns erkennen, dass alles wirkliche Leben Begegnung ist. Ich jedenfalls wüsste nicht, wo ich im Leben ohne meine Brüder und Freunde stünde. So aber fühle ich mich wohl, und ich liebe sie …