Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme

Was Freimaurerei leisten soll und was sie ist.

Eine Reflektion von K. O., Altpräsident der UFL Deutschland

Die Freimaurerei ist in ihrem ganzen Wesen und Inhalt international und universell. Sie ist eine Schule, in der die überkommenen Werte unserer Zivilisation und die allgemein feststehenden und anerkannten Tugenden in einer Weise gelehrt werden, die den Menschen zur Selbsterkenntnis führt. Die Freimaurerei ruht auf Werten, die unverrückbar sind. Diese Werte werden symbolisiert durch die Säulen: Weisheit, Stärke und Schönheit. Die Freimaurerei ist Arbeit an der Veredlung des Menschen. Sie ist nicht nur eine Bruderschaft. Sie ist auch und vor allem ein Mysterienbund.

Freimaurerei ist das Erlebnis des Übersinnlichen und Absoluten. Ergebnis ist Wissen, ist letzte Wahrheit. Der Weg des Maurers ist der Weg zur letzten Erkenntnis, ist mystisches Begreifen des Weltbildes und des letzten Dinges unseres Daseins. Die Wege der Menschen sind die Wege des Alltags im Irrgarten der Sinne und der Gedanken. Die Mauern der Erscheinungsformen engen den Blick, verschliessen den Horizont. Rastlos eilt der Mensch durch die verschlungenen Pfade seiner Gedankenwelt, um nach langer Irrfahrt wieder zum Ausgang zurückzukehren. Er hat den Aspekt der Ewigkeit verloren.

Brennend ist die Sehnsucht des Menschen nach reiner Erkenntnis. Der Mensch schaut nach innen und grübelt über die Bilder, die er empfängt. Es ist die innere Schau, die allein die Wahrheit erschließen kann. In den Sinnen befangen, vermag er nicht das Übersinnliche zu erleben.

Alle Wissenschaft ist bedingte Wahrheit
Die Wissenschaften der Völker haben als Dogma die Haltbarkeit des Verstandes und die Beweiskraft der sinnlichen Erfahrung. Eingepresst in die starren Formen niederer Erkenntnisse finden sie nicht den Weg vom Einzelnen, Bedingten, zum Allgemeinen und Absoluten. Alle Wissenschaft ist bedingte Wahrheit, ein ewiges Suchen und Forschen, aber kein letztes Wissen, das allein aus dem Erlebnis kommt.

Freimaurerei ist die Wissenschaft ohne Dogma. Ihr Wissen – im letzten Sinne – kann mit dem Verstand nicht begriffen werden. Sie kann daher niemals in Widerspruch stehen mit den immer wechselnden, immer sich widersprechenden Ergebnissen menschlicher Forschung. Ihr Wissen liegt auf der übersinnlichen Bewusstseinsphäre. Freimaurerei ist das Erlebnis des Unsichtbaren, Unbegreiflichen. Freimaurerei ist mystisches Erleben. Das Motto der Freimaurerei ist: Erkenne Dich selbst und Du erkennst Gott und damit den allmächtigen Schöpfergeist (oder: Erkenne Deinen Geist und Du erkennst die ewigen Gesetzmässigkeiten. – Verändere Deinen Sinn und Du veränderst die Welt). Das Buch heiliger Gesetze (Bibel, Koran, Weisses Buch) ist Richtschnur, das Winkelmass dient zum Abmessen unserer Handlungen und der Zirkel umschreibt unsere Wünsche und hält unsere Leidenschaften in Grenzen.

Dem Erreichen der Ziele und dem Umgang der Brüder miteinander dienen als Hilfe die «Alten Pflichten von 1723». Alle danach erlassenen Verlautbarungen oder Bestimmungen – gleich von welcher Grossloge für erforderlich erachtet – sind in ihrem Kern überflüssig. Sie verstossen gegen die Grundsätze der «Alten Landmarken». Es würde sich lohnen, die zahllosen späteren Erklärungen von Grosslogen, was die «Landmarks» sind oder sein sollten, auf den Müllhaufen der Irrungen zu werfen.

Verrücke die Grenzen nicht
Die Bibel erwähnt in «Sprüche Salomos» worum es geht: «Verrücke nicht die alte Grenze, die deine Väter schon errichtet haben!» oder – aus einer anderen Übersetzung: «Treibe nicht zurück die vorigen Grenzen, die deine Väter gemacht haben». (Altes Testament: Sprüche 22, Vers 28). Alle Erklärungen, was die «Landmarks» sind, dienen der Ausgrenzung, der Machtfülle und der Eitelkeit. Sie trennen den Suchenden von der Wahrheit ab und führen ihn in Erklärungsnotstände. Deshalb gibt es auch so viele Freimaurer, die auf die Frage, was Freimaurerei sei, dahingehend antworten, was sie nicht ist.

Die im Jahre 1929, in einer Extremlage europäischer Konfrontationspolitik, von den britischen Grosslogen verabschiedeten und von zahlreichen Grosslogen dieser Welt anerkannten «Basic Principles» verstossen in ihrem Kern gegen die «Alten Pflichten von 1723». Die «Alten Pflichten von 1723» sind das einigende Instrument internationaler freimaurerischer Ordnung. Es gilt für alle freimaurerische Obödienzen, zu diesen Grundsätzen zurückzukehren. Indem der Freimaurer seinen Geist fordert, fördert er die geistige Auseinandersetzung. In diesem Selbstverständnis hat sich leider seit der Aufklärung auch innerhalb der Freimaurerei ein schleichender Verfall der Geisteshaltung vollzogen, an dessen Beseitigung wir jetzt Mitverantwortung tragen. Die Freimaurerei hat gewissermassen etwas gutzumachen in einer Welt, die ihr Ziel angeblich nur in der Vernunft sehen kann und damit Gefahr läuft, die Wahrheitssuche zu vergessen. Wir Freimaurer müssen eine Zeit der erneuten Aufklärung einleiten. Wer Fehlentwicklungen erkennt und sein Fehlverhalten nicht ändert, wird schuldig. Insoweit gilt es, sich bei einer neuen Aufklärung zumindest aktiv zu beteiligen.

Wäre die Freimaurerei eine künstliche Theorie, leistete sie eine Arbeit, die die Wirklichkeit abstrahiert. Die Freimaurerei wäre dann nicht mehr als eine Sekte von Romantikern, die sich gegenseitig bestätigten, welche «Gutmenschen» sie seien. Jene Maurer, die an der Wirklichkeit vorbeiarbeiteten, entfernten sich von dem Dienst an der Humanität. Solche Maurer erstickten bald in ihrem Dogmatismus; sie wären zusehends unfähig, die Wahrheit zu erkennen. Ihre Augen wären von jenem Staub bedeckt, den sie beseitigen sollten.

Die Freimaurerei muss sich von Vorurteilen befreien
Der Freimaurer muss sich von Vorurteilen befreien, indem er die geistigen Fesseln ablegt. Ein freier Mensch muss sich die Liebe zur Freiheit bewahren und ständig erneut erarbeiten. Die Gedanken eines «freien Menschen von gutem Ruf» müssen so frei sein, dass er imstande ist zu zweifeln, er erhebt sich über das Dogma. Dann ist er imstande, in Liebe die Wahrheit zu suchen und einen Beitrag zu leisten, sich selbst und die Menschheit auf eine höhere geistige Ebene zu leiten. Hinsichtlich der Auseinandersetzung der Brüder mit Themen der Zeit gilt das, was Bruder Johannes Edward Bing bereits 1929 unter dem Thema «Ist die Freimaurerei reformbedürftig?» behandelte:

• Den konstruktiven Patriotismus pflegen, aber den Chauvinismus bekämpfen,
• der Politik die Pforten der Logen verschliessen, aber innerhalb der Bruderkette sich intensiver mit den Zeit bewegenden Problemen auseinandersetzen;
• schliesslich die Toleranzidee nicht nur in die Aussenwelt tragen, sondern auch in den eigenen Reihen pflegen.

Der vielfach geäusserte Ansatz, dass sich in Logen nicht über Politik und Religion geäussert wird, ist in lebendigen Logen aus verständlichen Gründen nicht realisiert. Zahlreiche Logen missverstehen jedoch ihren Auftrag in jenem vorauseilendem Gehorsam, das die Obödienz zur Grenze erklärt. Dieses hat zur Folge, dass Brüder an den Realitäten vorbei leben. Diese Haltung gibt Tendenzen Vorschub, die Freimaurerei als Ersatzreligion einzustufen. Wie Bruder Johannes E. Bing äusserte, so wollen wir die Pforte der Loge während der Tempelarbeiten der Politik verschliessen, uns jedoch an unseren Bruderabenden mit den gesellschaftsrelevanten Fragen unserer Zeit umso intensiver beschäftigen, ohne jedoch einer speziellen parteipolitischen Richtung Prioritäten einzuräumen. Hieraus folgen die Freiheit des Geistes und die Toleranz gegenüber der Freiheit des anderen.

Wahre Souveränität gibt es nur, wenn sich der Mensch, wenn sich eine Gemeinschaft und wenn sich die Länder bewusst und willentlich entschliessen, sich für das Wohlergehen des anderen Menschen, der anderen Gemeinschaft und des anderen Landes einzusetzen, das heisst deren Sichtweise zu erkennen und zu respektieren. Dieses Prinzip baut auf
Bildung, Erkenntnis und besonders auf Liebe auf. Hierin liegt der Geist, dem wir uns als Freimaurer verpflichtet sehen.